Das mildere Mittel

Warum ich (immer noch) für eine allgemeine Impfpflicht bin. Ein Debattenbeitrag.

Im Landesvorstand der GRÜNEN in Niedersachsen haben wir uns Anfang Dezember in einem Beschluss für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Ein Paradigmenwechsel. Als ich im Juli 2021 diese Position in anderen Zusammenhängen erstmals vertrat, war das Echo ablehnend. Die Fallzahlen waren auf einem Tiefststand, Impfstoff war ausreichend verfügbar und im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs war die Impfpflicht politisch ähnlich beliebt wie eine Mehrwertsteuererhöhung.

Ein halbes Jahr später stecken wir trotz leicht sinkender Fallzahlen mitten in der vierten Welle, Intensivstationen haben die Kapazitätsgrenze erreicht und vor der Tür steht Omikron. Kürzlich warnte der Expertenrat der Bundesregierung vor einer „ernsten Gefahr für die kritische Infrastruktur“ und forderte dringend Kontaktbeschränkungen. Die berufsbezogene Impfpflicht ist inzwischen beschlossen. Und wir werden auch erleben, dass die allgemeine Impfpflicht kommt. Wenn nicht jetzt, dann später, nach der fünften, sechsten Welle.

Weg aus der Pandemie

Eine allgemeine Impfpflicht wird früher oder später kommen, weil sie einer von zwei Wegen zurück in einen Zustand relativer Normalität ist. Der andere Weg, die kontrollierte oder unkontrollierte Durchseuchung, bedeutet den zusätzlichen Tod vieler tausend Menschen und kaum abzuschätzenden wirtschaftlichen Schaden. Der dritte Weg, der in der freiwilligen Impfung eines hinreichend großen Teils der Bevölkerung bestand, hat sich als nicht realistisch erwiesen.

Ich halte eine Impfpflicht aber auch deshalb für richtig, weil sie ein Stück kommunikative Ehrlichkeit bedeutet. Die Entscheidung über die Impfung ist nicht nur eine rein private, weil sie nicht nur das eigene Risiko betrifft. Jede Entscheidung für oder gegen die Impfung betrifft uns alle – weil sie die Pandemie verlängert, das Infektionsrisiko (trotz Impfung) erhöht und medizinische Ressourcen bindet. Diese Denkfigur zieht sich von Anfang an durch die Pandemie: Maskentragen und Kontaktbeschränkungen, um sich selbst und andere zu schützen. Auch hier haben wir es zuerst mit Freiwilligkeit versucht und dann – als Freiwilligkeit sich als unzureichend erwiesen hat – mit Pflicht und Kontrollen nachgesteuert. Und ich persönlich finde nicht, dass eine Impfung der schärfere Grundrechtseingriff ist im Vergleich dazu, dass das halbe Jahr über ein Großteil des öffentlichen Lebens verboten werden muss. Sie ist für mich das mildere Mittel.

Gefährliche Spaltung?

Es gibt im Wesentlichen zwei Argumente gegen eine Impfpflicht: Das erst Argument ist, dass eine Impfpflicht zur Spaltung der Gesellschaft führe. Ich halte es für ein hochproblematisches Argument. Es verschließt die Augen vor den Belastungen, die bereits jetzt für den gesellschaftlichen Zusammenhang bestehen. Indem der Staat gesagt hat, die Impfentscheidung sei Privatsache – moralisch falsch aber rechtlich legitim – privatisiert er auch den gesellschaftlichen Konflikt um die Impfung. In Familien und Freundeskreisen, am Eingang zu Läden und Kultureinrichtungen, in Zügen und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln findet täglich die Auseinandersetzung um Impfungen statt – wie zuvor schon um Masken- und Testpflichten. Kurz: Wer eine gesellschaftliche Spaltung befürchtet, macht es mit der bisherigen Politik nicht besser.

Das Spaltungs-Argument ist aber auch grundsätzlich problematisch, weil es – konsequent gedacht – zur Handlungsunfähigkeit demokratischer Systeme führt. Der Gedanke der ideologischen Einheit des Staatsvolkes jedenfalls ist Demokratien fremd. Hier wird diskutiert und gestritten und am Ende (mit Mehrheit) entschieden. Gerade die im Wortsinne „kritischen“ Fragen markieren die Grenze jener speziellen Form von Konsensdemokratie, auf die hin Deutschland strukturell angelegt ist und die in den letzten 16 Jahren tonangebend war. Wenn ein sachlich angemessener Kompromiss nicht möglich ist, muss eine sachlich angemessene Entscheidung mit Mehrheit gefällt werden.

Eine Frage der Umsetzung

Das zweite Argument gegen eine Impfpflicht ist, dass sie nicht umsetzbar sei. Hinter diesem Argument steht offenbar die Vorstellung, die Durchsetzung der Impfpflicht würde bedeuten, sich in den Einwohnermeldeämtern sämtliche Impfausweise vorzeigen zu lassen und bei Impfunwilligen die Polizei mit der Spritze in der Hand nach Hause zu schicken. Also ein bisschen wie bei der Wehrpflicht. Und in der Tat wird man sagen müssen, dass sich eine Impfpflicht auf diese Art und Weise kurzfristig nicht umsetzen ließe. Ich würde es so auch nicht wollen – Karlsruhe meiner Vermutung nach auch nicht.

Der jetzt ventilierte Gedanke eines nationalen Impfregisters hätte ähnlich Probleme. Wer sollte eine solche Datenbank aufbauen, nachhalten und durchsetzen? Hierfür hat der Bund derzeit nicht die Infrastruktur oder das Personal. Die Einwohnermeldedaten liegen bei den Kommunen, deren Gesundheitsämter – die so etwas theoretisch könnten – sind schon jetzt am Limit.

Das bedeutet aber nicht, dass eine Impfpflicht nicht auch ohne solche zentralstaatlichen Großprojekte umsetzbar wäre. Ich würde auf einen Dreiklang aus 1.) rechtlicher Klarheit, 2.) anlassbezogenen Kontrollen mit entsprechenden Bußgeldern und 3.) einer proaktiven Impfkampagne setzen.

Unter rechtlicher Klarheit verstehe ich nicht nur die Festlegung, wer sich bis wann wie zu impfen hat. Mein Ziel wäre, dass jene Menschen die Rechtsfolgen tragen, die dieser Pflicht nicht nachkommen und so fahrlässig zu einer Weiterverbreitung des Virus beitragen. Es geht mir insbesondere um Haftung, z.B. für Personenschäden. (Mir ist bewusst, dass die rechtlichen Details hier teilweise sehr kompliziert sind – das stört Regierungen aber sonst auch nicht.) Schon hierdurch kann sich die Anreizstruktur erheblich ändern.

Noch wichtiger wären mir breite aber anlassbezogene Kontrollen. Ich bin sehr skeptisch gegenüber einer abstrakten Kontrolle anhand eines Impfregisters – aber umso mehr überzeugt von verstärkten Kontrolle überall dort, wo Menschen in Kontakt gehen. Also beispielsweise stichprobenartig in Restaurants oder Kinos, in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei Gottesdiensten, bei Berufen mit viel Menschenkontakt, als Eingangsvoraussetzung in Bildungseinrichtungen (wie bei der Masernimpfpflicht) etc. Bußgelder würden verhängt, wenn Menschen ohne Impfstatus solche Orte besuchen. Es wäre keine grundlegende Neuerung gegenüber der 2G-Regelung, sondern eine rechtliche Weiterentwicklung und teilweise Rückverlagerung der Rechtsdurchsetzung von den Gewerbetreibenden auf den Staat. Solche Kontrollen und Bußgeldtatbestände wären skalierbar, um den organisatorischen Anforderungen an eine kontrollierende Infrastruktur – aber auch dem Gebot zur Wahl des jeweils mildesten Mittels – Rechnung zu tragen. Die Kontrollbereiche und ggf. bußgeldbewehrten Tatbestände könnten ggf. sukszessive ausgeweitet werden, um die notwendigen Impfquoten zu erreichen.

Und drittens müsste eine Impfpflicht natürlich begleitet werden von einer erneut intensivierten Impfkampagne. Insbesondere würde ich erwarten, dass alle Einwohnerinnen einmal angeschrieben und auf Impfangebote in ihrer Nähe hingewiesen werden. Es müsste mehrsprachige Informationsangebote geben und vertrauliche Beratungsangebote für Skeptikerinnen.

(Randbemerkung: Hierbei wird wieder einmal klar, dass erfolgreiche Pandemiebekämpfung nicht in Ministerien und Bundes- wie Landesbehörden geschieht, sondern vor Ort in den Kommunen. Wäre eine gute Gelegenheit mal über eine bessere Finanzausstattung der Städte, Gemeinden und Landkreise nachzudenken.)

Es muss keine sechste Welle geben

Natürlich ist auch mit solchen Maßnahmen kein schneller Ausweg aus der aktuellen pandemischen Lage von nationaler Tragweite (pun intended). Hier wird kurzfristig ein neuer Lockdown nicht zu vermeiden sein. Aber es muss keine fünfte und sechste Welle geben.

Genug!

Nach einem Jahr Improvisation sollten wir mal mit dem Krisenmanagement anfangen.

Eine Binnenlogik des Politischen führte die Regierenden Anfang März zu einer Lockerungsstrategie, die schon damals mit einem nüchternen Blick auf die Zahlen nicht mehr in Einklang zu bringen war. Nun wurde nach einer Marathon-Sitzung, in der sich die Ministerpräsidenten auf gar nichts einigen konnten, die Osterruhe als Minimalkompromiss beschlossen. Sie stellte sich gut einen Tag später als nicht umzusetzen heraus und wurde von der Kanzlerin unter viel „Asche-auf-mein-Haupt“ wieder kassiert. Von den Minimalbeschlüssen der MPK bleibt nach Rücknahme der „Osterruhe“ nur noch der fortgeschriebene Status-Quo, der erwiesenermaßen nicht ausreicht, um die dritte Welle aufzuhalten.

Die Dramatik der Abläufe entsteht auch dadurch, dass es weder eine funktionierende Strategie für den Einsatz von Schnelltests noch die dafür notwendige Logistik gibt, weswegen Jens Spahn und Andreas Scheuer (sic!) mit der Lösung dieses Problems betraut wurden. Was in Niedersachsen nach einem Jahr immer noch fehlt, ist ein halbwegs plausibles Konzept für einen pandemiegerechten Betrieb der öffentlichen Schulen und Betreuungseinrichtungen. Man hat sich auf die Rettung durch den Impfstoff verlassen – und vergessen, dass auch der Impfstoff nicht von selbst in die Oberarme kommt. (Von einheitlichen Standards für die Durchführung der Kontaktnachverfolgung und einer wirksamen Unterstützung kommunaler Gesundheitsämter durch das Land rede ich schon gar nicht mehr.) Und das alles nicht etwa, weil uns Wissenschaftler*innen nicht frühzeitig auf alle diese Probleme hingewiesen hätten. Im Gegenteil.

Nach einem Jahr „Fahren-auf-Sicht“ und zwei- bis vierwöchentlichem Reagieren auf die jeweils aktuelle Stimmungslage von Presse und Interessenverbänden offenbart die Pandemie die Handlungsunfähigkeit der Regierenden.

Die Systemlogik des Politischen

In der Ministerpräsidentenkonferenz regiert die Systemlogik des Politischen, die nicht fragt: „Wie kommen wir am besten durch die Pandemie?“ Es geht um Länderinteressen, um das Ansehen in der Öffentlichkeit, um wichtige Einflussgruppen und deren Anliegen. Diese etwas schmutzig wirkende Logik dient in unserem politischen System in „Friedenszeiten“ dem eminent wichtigen Ausgleich von Interessen. Sie schafft nicht immer optimale Lösungen, vermag aber als Prozess die Gesellschaft zu befrieden. In der Krise jedoch erweist sie sich als untauglich, weil das Virus kein Interesse innerhalb eines Gesamtkalküls darstellt, sondern eine unabänderliche Rahmenbedingung des Politischen.

Einen vergleichsweise guten Ruf genießt immer noch die Kanzlerin, weil sie – durchaus glaubwürdig – für einen Kurs der Vernunft wirbt. Es ist bezeichnend, dass es dafür derzeit ausreicht, dass sie mathematische Modelle ernst nimmt und dagegen ist, eine große Zahl von Menschen in der Wundflüssigkeit ihrer entzündeten Lungen ertrinken zu lassen. Sie könnte ein Bundesgesetz zur Pandemiebekämpfung durch das Kabinett und in den Bundestag einbringen und dort notfalls mit der Vertrauensfrage verbinden. Aber dazu scheint sie auch ein halbes Jahr vor dem definitiven Ende ihrer Kanzlerschaft nicht bereit zu sein. Auch sie unterliegt einer Logik des Machterhalts ohne zu fragen, wofür sie diese Macht eigentlich nutzen will.

Politik trotz ihrer Binnenlogik mit der Betrachtung der Wirklichkeit beginnen zu lassen, wäre die eigentliche Aufgabe demokratischer Führung. Poetischer: Es braucht die Leidenschaft und das Augenmaß, das Notwendige zu erkennen und dafür um Mehrheiten zu werben.

Ich bin für eine harten Shutdown

Der aktuelle Kurs der Regierung gefährdet Menschenleben. Und er nutzt nicht einmal denen, die jetzt von Lockerungen profitieren sollen – weder den Händler*innen, noch der Wirtschaft insgesamt und schon gar nicht der Kultur und den Familien. Denn Lockerungen zur falschen Zeit führen absehbar zu neuen Verschärfungen und im Hin und Her von Lockerungen und Verschärfungen dehnt sich die Zeit im Lockdown ins Unendliche.

Ich lege mich deshalb fest: Ich bin für einen harten Shutdown für mindestens zwei Wochen, wie ihn die deutsche Gesellschaft für Intensivmedizin jetzt fordert. Besser vier Wochen, um die Zahlen schnell nach unten zu bekommen. In der Zeit müssen wir das mit dem Testen und das mit dem Impfen und das mit dem Nachverfolgen endlich auf den Zacken kriegen. Dafür braucht es ein Gesetz – eigentlich auf Bundesebene – damit das gerichtsfester ist als diese komischen Verordnungen. Und dann können wir in einem Monat hoffentlich vorsichtig lockern.

Im Lockdown die Offenheit bewahren

Einige Gedanken zu den gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und zur politischen Aufgabe über die akute Nothilfe hinaus.

Corona ist die schwerste öffentliche Gesundheitskrise der vergangenen Jahre. Zugleich ist Corona eine wirtschaftlich und vor allem soziale Krise, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine harte Probe stellt. Viele Institutionen sind beeinträchtigt, die in normalen Zeiten eine offene Gesellschaft zusammen bringen: Dies beginnt bei den demokratischen Institutionen selbst, den Parlamenten und Parteien. Die Absage der großen Parteitage – auch der GRÜNEN in Niedersachsen – und die Ungewissheit, wie der innerparteiliche Willensbildungsprozess in den kommenden Monaten funktionieren wird, sind Beispiele. Noch dramatischer betroffen ist der zivilgesellschaftliche Teil unserer demokratischen Gesellschaft, die Basis des demokratischen Diskurses. Vereine und Gruppen, die ihre Treffen auf das Nötigste reduziert haben, Versammlungen, die nur noch unter Auflagen möglich sind, informelle Treffen in Cafés, auf Partys oder in Kneipen, die derzeit nicht mehr stattfinden können. Es fehlt die Plattform zum Austausch, um Gemeinsamkeit zu stiften, Kontakte zu schaffen, Vereinzelung zu überwinden und Vorurteile abzubauen.

Kulturschaffende, Gastronom*innen, Veranstaltungstechniker*innen, viele soloselbständige Trainer*innen und Dienstleister*innen, Studierende mit Nebenjobs, aber auch ganze Branchen wie Theater, Clubs, Sportstudios, Bars und Restaurants verlieren ihre wirtschaftliche Grundlage. Es vertiefen sich ökonomische Ungleichgewichte zu Lasten von Menschen, die schon außerhalb der Krise oftmals in wirtschaftlich prekären Verhältnissen arbeiten. Für sie existieren derzeit zu wenige maßgeschneiderte Hilfsangebote, weil viele bisherige Unterstützungen vom sogenannten Regelarbeitsverhältnis ausgehen, das aber längst nicht mehr die Regel ist.

Andere werden in der Pandemie besonders gefordert – allen zuvorderst natürlich die Beschäftigen des Gesundheitssystems, aber auch Erzieher*innen, Lehrer*innen, Polizist*innen – aber auch alle, die unter den erschwerten Bedingungen ihrer normalen Arbeit nachgehen, die die zusätzliche Belastung durch Homeoffice und eingeschränkte Kinderbetreuung tragen müssen. Es gibt gesellschaftliche Spätfolgen der Pandemie, die bereits jetzt absehbar sind, wie vor allem der emanzipatorische Rückschritt, dass Frauen im Lockdown wieder viel stärker in traditionelle Rollenbilder gedrängt werden, zusätzlich Care- und Familienarbeit übernehmen und dadurch die Errungenschaften vergangener Jahre verloren gehen.

All’ diese kleinen und großen, teilweise kaum zu verhindernden Ungerechtigkeiten setzen unsere Gesellschaft einem beträchtlichen Stress aus. Die Aufgabe der Politik in dieser Zeit ist zuvorderst der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung durch Maßnahmen, die insgesamt verhältnismäßig und rechtsstaatlich vertretbar sind. Es ist aber auch die Aufgabe von Politik, jenseits der wirtschaftlichen Entwicklung an das Überleben einer offenen Gesellschaft in einer vielleicht zweijährigen Zeit der Pandemie zu denken. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich bestehende Gräben vertiefen, dass die Akzeptanz schwindet und jene Oberwasser bekommen, die eine andere, weniger liberale Gesellschaft wollen. Wir müssen im Lockdown die Offenheit bewahren.

Kein Freibrief für die Exekutive – eine Perspektive für die Gesellschaft

Die Corona-Krise ist eine Zumutung für Demokrat*innen, weil sie die gewohnten demokratischen Abläufe und Rituale durcheinander wirbelt und teilweise unmöglich macht. Sie ist aber noch keine Krise der Demokratie. Das zeigt sich in der funktionierenden Kontrolle durch unabhängige Gerichte, in einer kritischen Presselandschaft und letztlich auch darin, dass die Parlamente deutlich und erfolgreich ihre Beteiligung einfordern.

Die Krise ist die Stunde der Exekutive – aber sie ist kein Freibrief. Eine parlamentarische Debatte und eine offene Kommunikation in der Öffentlichkeit zwingt die Regierung, die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Einzelnen nachvollziehbar zu begründen – und eine schlüssige Begründung ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass sie von Öffentlichkeit und Gerichten (!) als verhältnismäßig beurteilt werden. Neben einer nachvollziehbaren Begründung ihres Handelns gegenüber Parlament und Öffentlichkeit muss die Landesregierung den kommunalen Gesundheits- und Ordnungsämtern, der Polizei, den Schulen und Kindergärten klare Handreichungen für den Winter geben geben – zum Beispiel bei der Umsetzung der Quarantäneanordnungen und Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung oder für den sicheren Unterrichts im Winter. Denn auch eine einheitliche und nachvollziehbare Umsetzung der Maßnahmen ist wesentliche Voraussetzung für ihre Akzeptanz.

In der wirtschaftlichen und sozialen Krise müssen wir politisch jene in den Blick nehmen, die in dieser Situation besonders verwundbar sind. Dies wäre der Zeitpunkt, um endlich über eine bedarfsgerechte Finanzierung von Frauenhäusern zu sprechen. Dies wäre der Zeitpunkt, einen Umgang mit dem verlorenen Schuljahr 2020/21 zu finden, unter dem nicht die Kinder in bildungsfernen Elternhäusern besonders leiden. Dies wäre der Zeitpunkt, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem und in der Pflege zu verbessern und systematischen Fehlentwicklungen zu begegnen.

Zugleich haben wir einen dringenden Bedarf an neuen Formen des Diskurses und des Austausches in Politik und Gesellschaft und an Formaten, die entlasten, Gemeinschaft stiften und Zusammenhalt verbessern. Wir brauchen eine Perspektive für die Zivilgesellschaft. Dies wäre die Zeit, um vielen Kulturschaffenden und Kreativen, selbstständigen Kommunikationexpert*innen die Möglichkeit einzuladen an neuen Formaten des Austausches zu arbeiten, neue Formen der kulturellen Bereicherung unseres Alltages zu finden und Debattenräume zu eröffnen. Ich bin ausdrücklich dafür, dass wir ihnen ein Angebot jenseits von HartzIV machen – aber nicht als „bedingungsloses Einkommen“, sondern als öffentliches Stipendium. Wir könnten damit damit die kulturellen und kommunikativen Errungenschaften aus dem ersten Lockdown wiederbeleben – nur dieses mal mit einem fairen Lohn.

Und ja, um dies alles zu finanzieren, wird man nach der Krise über einen fairen Lastenausgleich sprechen müssen. So viel Mut muss sein.

Die Stärke der Demokratie

Wird die Corona-Krise auch zu einer Krise der Demokratie? Nein – sie erweist auch in der Krise ihre Stärke. Ein bewusst positiver Kommentar.

Warum ich in Corona keine Gefahr für die offene Gesellschaft sehe

Bei ihrer Pressekonferenz am 16. März, bei der Angela Merkel einschneidende Maßnahmen im Kampf gegen die Ausbreitung des Corona-Virus ankündigte, bekam die Bundeskanzlerin eine brisante Frage gestellt: Wie lange denn eine freie und offene Gesellschaft die massenhafte Einschränkung von Grundrechten aushalten könne. Angela Merkels Antwort war eine typisch gewundene Nicht-Antwort und lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Es muss halt jetzt sein.

Wer übelwollend ist, könnte daraus die Wiederkehr einer Politik der Alternativlosigkeit ableiten – ein Aushebeln der Demokratie, die ja auch immer etwas damit zu tun hat, eine Wahl zu haben. Verständlicherweise sind es nicht wenige vor allem Links-Liberale, die die massenhafte Einschränkung von Grundrechten – und die Bereitschaft, mit der sie hingenommen werden – mit größter Sorge betrachten. Droht hier die schleichende Rückkehr des Autoritarismus?

Die Fernsehansprache der Kanzlerin zwei Tage später hat eine andere Botschaft: Sie ist ein Appell an mündige Bürgerinnen und Bürger, das in einer außergewöhnlichen Situation Notwendige zu tun. Und sie deckt sich mit meiner Wahrnehmung: Die Pandemie ist eine Bewährungsprobe, in der die Demokratie ihre große Stärke zeigt.

Schutzpflicht und Verhältnismäßigkeit

Auch mir macht die massenhafte Beschneidung von Grundfreiheiten ein mulmiges Gefühl – das umso mulmiger wird, als einige Kommentatoren (m.) ohne jeden einschlägigen wissenschaftlichen Hintergrund immer weitergehende Einschränkungen fordern. Aber sind sie prima facie eine Gefahr für die offene Gesellschaft?

Der Schutz der Bevölkerung ist gerade auch im Krisenfall eine der wichtigsten Aufgaben und Legitimationsquellen des Staates – nicht erst seit Hobbes’ „Leviathan“, sondern mindesten seit dem Mittelalter. Man stelle sich nur einmal hypothetisch vor, die Bundesrepublik würde es unter Verweis auf die Grundfreiheiten ablehnen, wirksame Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zu ergreifen, würde den Kollaps des Gesundheitssystems und damit tausende unnötige Todesfälle in Kauf nehmen. Das politische System, das derart Grundfreiheiten über Menschenleben stellt, würde schneller beseitigt als man „Maslow’sche Bedürfnispyramide“ sagen kann.

Deswegen gilt: In außergewöhnlichen Zeiten kann – und muss – auch eine liberale Demokratie zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen.

Ein demokratietheoretischer Widerspruch ergibt sich daraus zunächst einmal nicht: Die Einschränkung individueller Grundrechte ist gewissermaßen das Wesen von Staatlichkeit – jedes Ordnungsrecht greift in die allgemeine Handlungsfreiheit ein, jede Steuer in das Eigentum. Grundrechtseinschränkungen sind keine Gefahr für die Demokratie, wenn sie 1. auf demokratisch beschlossenen Gesetzen beruhen, 2. einen legitimen (d.h. auch: verfassungsgemäßen) Zweck verfolgen und vor allem 3. in Bezug auf diesen verhältnismäßig sind.

Kurz gefasst: Außergewöhnliche Gefahren rechtfertigen auch sehr weitgehende Maßnahmen, wenn sie denn notwendig sind. Hinter dem Merkel’schen „Es muss jetzt halt sein“ verbirgt sich der zutiefst rechtsstaatliche Gedanke der Verhältnismäßigkeit.

Die Mär von der Überlegenheit der Autokratien

Es ist ein altes Vorurteil gegenüber liberalen Demokratien, dass sie existenzbedrohenden Krisen – sei es ein militärischer Konflikt oder eine schwere Naturkatastrophe – hilflos ausgeliefert seien. Demokratien stehen im Verdacht, sie seien zu langsam und aus Rücksicht auf individuelle Grundrechte nicht zu harten Entscheidungen fähig. Auch jetzt schwingt mancherorts Bewunderung für das autoritär regierte China mit, das mit drastischen Maßnahmen Erfolg bei der Bekämpfung der Krankheit hatte.

Es wird regelmäßig vergessen, dass das chinesische System jenen Arzt mundtot gemacht hat, der im Dezember 2019 vor dem seit dem November grassierenden Virus warnte, und so eine Chance zu seiner frühzeitigen Eindämmung vertat. Das System reagierte augenscheinlich erst nach etwa eineinhalb Monaten – nach dem 20. Januar. Auch ein Blick nach Russland zeigt, wie ein autoritäres Regime die Krise ignoriert, um die eigenen machtpolitischen Ziele nicht zu gefährden.

Im Vergleich dazu stehen die westlichen Demokratien nicht unbedingt schlechter da. Sogar das Beispiel der USA zeigt, wie ein System mit „checks and balances“ die katastrophalen Fehler des narzistischen Autokraten im weißen Haus teilweise ausgleichen kann: Während Trump die Krise totschwieg, warnten Wissenschaft und ein Teil der Medien. Bundesstaaten begannen zu handeln (übrigens ähnlich wie beim Klimaschutz) und unter öffentlichem Druck wurde auch die US-Bundesregierung tätig. Um mich nicht falsch zu verstehen: Trump ist gerade jetzt eine Katastrophe für die Vereinigten Staaten. Aber man stelle sich Trump einmal ohne freie Medien, eine freie Wissenschaft und föderale Strukturen vor. Schauderhaft.

Man kann sich auch die Ereignisse in Deutschland ansehen: Als vor zwei Wochen einige Bundesländer zögerten, die Schulen zu schließen, brachte das „Vorpreschen“ anderer Länder und der einsetzende öffentliche Druck sie schnell zur Räson. Dass bestimmte Politiker der Exekutive (nicht nur in Bayern und nicht nur in Deutschland) die Krise zur eigenen Profilierung nutzen, kann man unschön finden – der Bewältigung der Lage scheint dieser Egoismus jedoch derzeit eher zu nutzen als zu schaden. Ein System funktioniert manchmal umso besser, wenn Menschen aus den falschen Gründen das Richtige tun.

Das bedeutet nicht, dass nicht in Deutschland und Europa schwere und schwerste Fehler gemacht worden wären. Aber Vieles spricht dafür, dass es nicht Unzulänglichkeiten der Demokratie sondern die Fehler fehlbarer Menschen waren.

Mündige BürgerInnen

Auf der anderen Seite gibt es Aspekte, die Demokratinnen in Deutschland Mut machen können: Das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen ist insgesamt sehr hoch – vor allem in das Robert-Koch-Institut und die Einrichtungen des Gesundheitssystems. Aber eben auch in die öffentlich-rechtlichen Medien, in die gewählte Regierung und in die Verwaltung. Ein überwältigender Teil der Bevölkerung befürwortet die ergriffenen Maßnahmen, nach meinem Eindruck, aus Einsicht in ihre Notwendigkeit – und nicht aus einem obrigkeitshörigen Impuls heraus oder gar aus Angst vor Repressionen. Daran ändert auch die Existenz einiger – mit Verlaub – infantiler Deppen wenig, die mit Corona-Partys am Ende polizeiliche Maßnahmen notwendig machen. Ihnen gegenüber steht eine überwältigende Mehrzahl an Personen, die in der Krise nicht nur vernünftig reagieren, sondern freiwillig und ohne Zwang anderen helfen – egal ob in den Einrichtungen des Gesundheitssystems oder in der Nachbarschaft. Mit den Übrigen, den Unvernünftigen wird eine besonnen agierende Polizei fertig. Deshalb bleibt die berechtigte Hoffnung, dass allgemeine Ausgangssperren nicht kommen werden und auch die Bundeswehr weiter vor allem mit ihren Krankenhäusern und Beschaffungsämtern aushilft.

Mein Eindruck: Die offene Gesellschaft zeigt gerade auch unter den Bedingungen der Krise eine außerordentliche Stärke und Resilienz. Bürgerinnen und Bürger, die in ihrer Mehrheit politisch mündig sind und ein Grundvertrauen in die Institutionen des Staates haben – es auch haben können – erweisen sich gerade als die wichtigste Ressource liberaler Demokratien.