Im Lockdown die Offenheit bewahren

Einige Gedanken zu den gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und zur politischen Aufgabe über die akute Nothilfe hinaus.

Corona ist die schwerste öffentliche Gesundheitskrise der vergangenen Jahre. Zugleich ist Corona eine wirtschaftlich und vor allem soziale Krise, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine harte Probe stellt. Viele Institutionen sind beeinträchtigt, die in normalen Zeiten eine offene Gesellschaft zusammen bringen: Dies beginnt bei den demokratischen Institutionen selbst, den Parlamenten und Parteien. Die Absage der großen Parteitage – auch der GRÜNEN in Niedersachsen – und die Ungewissheit, wie der innerparteiliche Willensbildungsprozess in den kommenden Monaten funktionieren wird, sind Beispiele. Noch dramatischer betroffen ist der zivilgesellschaftliche Teil unserer demokratischen Gesellschaft, die Basis des demokratischen Diskurses. Vereine und Gruppen, die ihre Treffen auf das Nötigste reduziert haben, Versammlungen, die nur noch unter Auflagen möglich sind, informelle Treffen in Cafés, auf Partys oder in Kneipen, die derzeit nicht mehr stattfinden können. Es fehlt die Plattform zum Austausch, um Gemeinsamkeit zu stiften, Kontakte zu schaffen, Vereinzelung zu überwinden und Vorurteile abzubauen.

Kulturschaffende, Gastronom*innen, Veranstaltungstechniker*innen, viele soloselbständige Trainer*innen und Dienstleister*innen, Studierende mit Nebenjobs, aber auch ganze Branchen wie Theater, Clubs, Sportstudios, Bars und Restaurants verlieren ihre wirtschaftliche Grundlage. Es vertiefen sich ökonomische Ungleichgewichte zu Lasten von Menschen, die schon außerhalb der Krise oftmals in wirtschaftlich prekären Verhältnissen arbeiten. Für sie existieren derzeit zu wenige maßgeschneiderte Hilfsangebote, weil viele bisherige Unterstützungen vom sogenannten Regelarbeitsverhältnis ausgehen, das aber längst nicht mehr die Regel ist.

Andere werden in der Pandemie besonders gefordert – allen zuvorderst natürlich die Beschäftigen des Gesundheitssystems, aber auch Erzieher*innen, Lehrer*innen, Polizist*innen – aber auch alle, die unter den erschwerten Bedingungen ihrer normalen Arbeit nachgehen, die die zusätzliche Belastung durch Homeoffice und eingeschränkte Kinderbetreuung tragen müssen. Es gibt gesellschaftliche Spätfolgen der Pandemie, die bereits jetzt absehbar sind, wie vor allem der emanzipatorische Rückschritt, dass Frauen im Lockdown wieder viel stärker in traditionelle Rollenbilder gedrängt werden, zusätzlich Care- und Familienarbeit übernehmen und dadurch die Errungenschaften vergangener Jahre verloren gehen.

All’ diese kleinen und großen, teilweise kaum zu verhindernden Ungerechtigkeiten setzen unsere Gesellschaft einem beträchtlichen Stress aus. Die Aufgabe der Politik in dieser Zeit ist zuvorderst der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung durch Maßnahmen, die insgesamt verhältnismäßig und rechtsstaatlich vertretbar sind. Es ist aber auch die Aufgabe von Politik, jenseits der wirtschaftlichen Entwicklung an das Überleben einer offenen Gesellschaft in einer vielleicht zweijährigen Zeit der Pandemie zu denken. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich bestehende Gräben vertiefen, dass die Akzeptanz schwindet und jene Oberwasser bekommen, die eine andere, weniger liberale Gesellschaft wollen. Wir müssen im Lockdown die Offenheit bewahren.

Kein Freibrief für die Exekutive – eine Perspektive für die Gesellschaft

Die Corona-Krise ist eine Zumutung für Demokrat*innen, weil sie die gewohnten demokratischen Abläufe und Rituale durcheinander wirbelt und teilweise unmöglich macht. Sie ist aber noch keine Krise der Demokratie. Das zeigt sich in der funktionierenden Kontrolle durch unabhängige Gerichte, in einer kritischen Presselandschaft und letztlich auch darin, dass die Parlamente deutlich und erfolgreich ihre Beteiligung einfordern.

Die Krise ist die Stunde der Exekutive – aber sie ist kein Freibrief. Eine parlamentarische Debatte und eine offene Kommunikation in der Öffentlichkeit zwingt die Regierung, die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Einzelnen nachvollziehbar zu begründen – und eine schlüssige Begründung ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass sie von Öffentlichkeit und Gerichten (!) als verhältnismäßig beurteilt werden. Neben einer nachvollziehbaren Begründung ihres Handelns gegenüber Parlament und Öffentlichkeit muss die Landesregierung den kommunalen Gesundheits- und Ordnungsämtern, der Polizei, den Schulen und Kindergärten klare Handreichungen für den Winter geben geben – zum Beispiel bei der Umsetzung der Quarantäneanordnungen und Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung oder für den sicheren Unterrichts im Winter. Denn auch eine einheitliche und nachvollziehbare Umsetzung der Maßnahmen ist wesentliche Voraussetzung für ihre Akzeptanz.

In der wirtschaftlichen und sozialen Krise müssen wir politisch jene in den Blick nehmen, die in dieser Situation besonders verwundbar sind. Dies wäre der Zeitpunkt, um endlich über eine bedarfsgerechte Finanzierung von Frauenhäusern zu sprechen. Dies wäre der Zeitpunkt, einen Umgang mit dem verlorenen Schuljahr 2020/21 zu finden, unter dem nicht die Kinder in bildungsfernen Elternhäusern besonders leiden. Dies wäre der Zeitpunkt, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem und in der Pflege zu verbessern und systematischen Fehlentwicklungen zu begegnen.

Zugleich haben wir einen dringenden Bedarf an neuen Formen des Diskurses und des Austausches in Politik und Gesellschaft und an Formaten, die entlasten, Gemeinschaft stiften und Zusammenhalt verbessern. Wir brauchen eine Perspektive für die Zivilgesellschaft. Dies wäre die Zeit, um vielen Kulturschaffenden und Kreativen, selbstständigen Kommunikationexpert*innen die Möglichkeit einzuladen an neuen Formaten des Austausches zu arbeiten, neue Formen der kulturellen Bereicherung unseres Alltages zu finden und Debattenräume zu eröffnen. Ich bin ausdrücklich dafür, dass wir ihnen ein Angebot jenseits von HartzIV machen – aber nicht als „bedingungsloses Einkommen“, sondern als öffentliches Stipendium. Wir könnten damit damit die kulturellen und kommunikativen Errungenschaften aus dem ersten Lockdown wiederbeleben – nur dieses mal mit einem fairen Lohn.

Und ja, um dies alles zu finanzieren, wird man nach der Krise über einen fairen Lastenausgleich sprechen müssen. So viel Mut muss sein.

Der innere Ausnahmezustand

G20 in Hamburg und die Gewalt in den Köpfen

Während der Einsatz in Hamburg noch läuft – ich schreibe dies am Morgen des 8. Juli 2017 -, ist es sicherlich zu früh für eine detaillierte Ursachen- und Fehleranalyse. Man muss festhalten, dass Gewalt auch gegen Sachen keine legitime Form des politischen Protests ist – schon weil sie sich nicht gegen die Sachen selbst richtet sondern gegen die Eigentümer. In Hamburg waren politisch verbrämte Hooligans zugange – obwohl die Zahl der friedlichen Demonstrant_innen sie weit in den Schatten stellte. Man muss aber auch festhalten, dass die erklärt harte Haltung der Hamburger Polizei nicht zur Entspannung der Lage beigetragen hat – um es vorsichtig auszudrücken.

Ich möchte mich um Differenzierung bemühen. Es ist wichtig, die politische Bewertung der Vorgänge von der strafrechtlichen Bewertung zu trennen. Wenn sich jemand seinen Freunden im schwarzen Block angeschlossen hat, in einer hitzigen Situation mitgerissen wurde und am Ende beim Abfackeln eines Autos erwischt wurde, ist dieser jemand strafrechtlich zu belangen. Er trägt seinen Teil der Verantwortung aber nicht unbedingt die politische (Gesamt-)Verantwortung für die Ereignisse in Hamburg. Umgekehrt muss auch ein Polizist, dem zur Unzeit der Schlagstock ausgerutscht ist, dafür die Konsequenzen tragen. Er trägt als Einzelperson aber kaum die Gesamtverantwortung für die furchterregende Eskalation dieses Wochenendes.

Eskalation ist immer unkontrollierbar

Das Wort „eskalieren“ wurde im Kalten Krieg geprägt, um die befürchtete Ausweitung konventioneller bewaffneter Konflikte zu thermonuklearen Vernichtungskriegen zu beschreiben. Es ging dabei nicht darum, dass dieser oder jener eine Lage bewusst eskaliert – niemand will den Atomkrieg. Vielmehr eskalieren Situationen, ohne dass die handelnden Akteure einer Seite dies bewusst angestrebt hätten: Jemand schießt versehentlich mit einer Pistole, jemand schießt mit dem Gewehr zurück, worauf jemand die Artillerie ruft, was zur Mobilisierung der Luftwaffe führt…  „Eskalation“ beschreibt immer auch das Unberechenbare, die Eigendynamik konfliktgeladener Situationen, die sich schnell jeder Kontrolle entziehen.

Man kann sich vorstellen, dass jungen Menschen, die bedrohlich gerüsteten Polizisten mit Schlagstock, Wasserwerfer und Tränengas gegenüber stehen, dadurch nicht eben ermutigt werden, innerhalb der eigenen Gruppe den Diskurs über die Grenzen legitimen Protests zu führen. Druck von außen erzeugt Solidarisierung im Inneren.  Man sich ebenso vorstellen, dass jungen Menschen, die sich als Polizisten einer zahlenmäßig weit überlegenen, aufgepeitschten Menschenmenge gegenüber sehen, trotz Ausbildung ein gewisses Verständnis für das besonders „robuste“ Vorgehen der Kollegen aufbringen. Und wenn es dann erstmal „rund“ geht, reagieren beide Seiten vor allem instinktiv.

Dadurch vermindert sich nicht die individuelle Mitverantwortung. Mir müssen von jedem und jeder Person verlangen, sich aber nicht mitreißen zu lassen. Aber es gibt eine Dimension der Verantwortung, die dem eigentlichen Konflikt vorgelagert ist. Denn Menschen machen Fehler.

Gewalt beginnt in den Köpfen

Unkontrollierte Gewalt beginnt meist lange, bevor der erste Stein oder das erste Pfefferspray geflogen ist, oft noch bevor eine Versammlung überhaupt startet. Sie beginnt, wenn „die Polizei“ unterschiedslos als „gewaltbereite Büttel eines faschistischen Unterdrückungsregimes“ diffamiert werden. Sie beginnt ebenso, wenn „die Mitglieder des Schwarzen Blocks“ unterschiedlos als potenzielle Polizistenmörder beschrieben werden, die – ergäbe sich nur die Gelegenheit – ohne mit der Wimper zu zucken einen Beamten kalt machen würden. (Solche Befürchtungen habe ich selbst schon gehört.)

Aus solchen Äußerungen höre ich den antiliberalen Geist Carl Schmitts, das Freund-Feind-Denken, das den (politischen) Gegner nicht als Partner begreift sondern als Feind, den es mit allen Mitteln zu vernichten gilt. Es ist die Logik des Ausnahmezustands, in dem unter dem höheren Gebot der vermeintlich gerechten Sache oder des eigenen Überlebens die geschriebene Gesetze und die ungeschriebene Regeln außer Kraft gesetzt werden – silent inter arma enim leges.

Verantwortung und Verantwortlichkeit

Deshalb ruht ein großer Teil der persönlichen Verantwortung für die Eskalation des G20-Gipfels am vergangenen Wochenende in Hamburg auf den Führungspersonen beider Seiten. Es gibt vielleicht Akteure in der autonomen Szene, die die Krawalle wollten, die sie trainiert und auf sie hingearbeitet haben. Sie hätten Strafe mehr verdient als die einzelnen Steinewerfer.

Es gibt wohl auch auf der anderen Seite Führungspersonen, die das Klima der Konfrontation geschürt und die Gräben vertieft haben. Sie haben sich nicht strafbar gemacht – aber sie tragen Verantwortung. Wer immer ein hohes politisches Amt oder ein Amt in den Sicherheitsbehörden nutzt, um sich als harter Hund zu profilieren, disqualifiziert sich für eben jenes Amt. Eine Rhetorik des „Wir-Gegen-Die“, des „Freund-oder-Feind“ hat in den Ordnungsbehörden eines liberalen Rechtsstaats nichts zu suchen!

Die Logik des Ausnahmezustands trägt immer wieder zur Eskalation von Kundgebungen bei. Es wäre die Verantwortung von Führung, Brücken über die Gräben zu bauen und sich nicht in ihnen zu verschanzen. Das gilt im Übrigen für die politische Linke genauso wie für die Polizei.

Political disclaimer – just because…

Dies mag sich nun für einige so lesen, als würde ich die gewalttätigen Polit-Hooligans in Schutz nehmen und die Schuld vor allem bei der Polizei suchen. Das ist Quatsch – für die einen fordere ich Haft, für die anderen stinknormale „accountability“ – Fehlerkultur.

#ehefueralle

Es geht nicht (nur) um Lesben und Schwule

Die Ehe für alle, also die volle rechtliche Gleichstellung lesbischer und schwuler Lebensgemeinschaften, ist die rote Linie des GRÜNEN Wahlprogramms. Besser: Sie ist die regenbogen-bunte Linie, die auf dem Weg zu schwarz-grünen Bündnissen nach der Bundestagswahl ein kaum zu überwindendes Hindernis darstellen könnte. Ein Schelm, wer dahinter eine böse Absicht Volker Becks vermutet.

Im Allgemeinen ist der GRÜNE Bundesparteitag 2017 in den Zeitungen gut weggekommen. Die Inszenierung der Geschlossenheit und Kampfeslust hat funktioniert. Die Partei hat sich hinter dem Spitzenduo Katrin und Cem versammelt – und auch hinter dem Anspruch, eine eigenständige Politik jenseits von Sozialdemokratie und Christdemokratie zu definieren. Über den Beschluss zur Ehe für alle gab es hingegen stellenweise Kopfschütteln. Am deutlichsten in der Zeit, wo Ludwig Greven den Beschluss mit den berüchtigten alle-reden-von-deutschland-wir-reden-vom-wetter-Plakaten verglich, das die GRÜNEN 1990 den Einzug in den ersten gesamtdeutschen Bundestag kostete.Die GRÜNEN, so der Vorwurf, würden sich mit Randthemen beschäftigen und die großen gesellschaftlichen Baustellen – gemeint sind wohl innere und äußere Sicherheit – rechts liegen lassen. Greven konstatierte der Partei rundheraus „Todessehnsucht“. Das Gegenteil ist der Fall.

Trump, Putin, Erdogan, LePen, Gauland und wie die VertreterInnen des neuen Autoritarismus heißen – ein aggressiv vertretenes konservatives Familienbild ist wesentlicher Bestandteil ihrer Ideologie. In Putins Fall kann man auch sagen, dass aggressive Homophobie eine zentrale ideologische Klammer seines Regimes ist. Ähnliches gilt auch für die deutsche rechtsextreme Szene.

Im Zentrum aller (neu)rechter Ideologie steht der Begriff der Volksgemeinschaft. Wie auch immer er konkret ausbuchstabiert sein mag – klassisch rassisch, religiös oder scheinbar modern kulturtheoretisch – immer beinhaltet er einige zentrale Gedanken: Es gibt ein „Wir“ und ein „Die“. Wer zu „uns“ gehört, macht sich an „natürlichen“ Merkmalen wie der „Rasse“, der Religion oder „Kultur“ – und eben Sexualität – fest. Die Ausgrenzung von Schwulen und Lesben – meist verbunden mit aggressiv zur Schau getragenem Machotum – ist darum ein integraler Bestandteil fast jeden rechten Autoritarismus.

Der Beschluss zur Ehe für alle bedeutet also nicht nur, dass die GRÜNEN sich für die überfällige rechtliche Gleichstellung einer Minderheit einsetzen. Der Beschluss ist auch eine bewusste Provokation nach ganz rechts. Die GRÜNEN sagen der neurechten Ideologie den Kampf an – und erfüllen damit ihren Anspruch, die Anti-AFD zu sein. Die Ehe für alle steht „pars pro toto“ für den Kampf für eine offene und vielfältiges Gesellschaft, in der Unterschiede kein Hindernis für ein gelingendes Zusammenleben sind.

Richtig ist: Der Beschluss zur Ehe für alle zwingt die CDU – mehr noch aber die CSU -, Farbe zu bekennen: Willst du, liebe Union, am Ende des Tages auf der Seite von Liberalismus und Aufklärung stehen? Oder ist dir die absolute Mehrheit in Bayern wichtiger? Sie ist zu recht das Schibbolet für eine mögliche schwarz-grüne Zusammenarbeit im Bund. Denn eine CDU, die ihren Unwort-Begriff von der Leitkultur in einer Weise interpretiert, die andere, anders-seiende ausschließen will, ist für GRÜNE nicht koalitionsfähig. Da geht es schlicht um ein unterschiedliches. Grundverständnis von Gesellschaft.

Mit dem Beschluss zur Ehe für alle und der gleichzeitigen Absage an eine formale Ausschließeritis markieren die GRÜNEN den Anspruch, nicht nur das ökologische Anhängsel wahlweise zu SPD oder zu CDU zu sein. Sie markieren vielmehr eine inhaltliche Linie. GRÜNE sind die Partei des Pluralismus: Vielfalt bereichert eine Gesellschaft. Und der Staat hat die Aufgabe, diese Vielfalt nicht nur zu ertragen und sich darüber hinaus möglichst rauszuhalten (das Modell des klassischen Liberalismus à la FDP). Der Staat soll Vielfalt fördern und ermöglichen. Dafür lasse ich mich im kommenden Wahlkampf gern von AFD-Anhängern beschimpfen.