Weil Putin scheitern muss

Vom Schrecken des Krieges und politischer Verantwortung

Eine Frau liegt mit schockgeweitetem Blick auf einer Trage, die von Rettungskräften durch eine Trümmerlandschaft getragen wird. Ihr Gesicht ist bleich, unter dem hochgerutschten Pullover ist deutlich ihr vorgewölbter Bauch zu sehen, darunter das Rot von Blut. Schnee fällt. Oder Asche.

In der ukrainischen Stadt Mariupol hat eine russische Bombe eine Geburtsklinik getroffen.So berichtet unter anderem der SPIEGEL. Berichte dieser Art häufen sich. Eine Evakuierung der Stadt ist gescheitert. Vereinbarte Fluchtkorridore wurden beschossen, heißt es. Oder sie waren vermint.

Ich habe Bilder von russischen Schmetterlingsminen gesehen – kleine Minen, die in großer Zahl aus einem Flugzeug heraus verteilt werden. Sie sollen nicht töten. Sie sollen eine Hand, einen Arm, einen Fuß abreißen – weil Schwerverwundete den Feind stärker behindern als Tote. Sie sehen aus wie Kinderspielzeug.

In Mariupol soll ein Exempel statuiert werden, so scheint es. „Seht, was geschieht, wenn ihr weiter Widerstand leistet.“ Statt der Reden des Präsidenten sollen die Handys der Ukrainer*innen den Schrecken des Krieges verbreiten.

Es ist eine Wiederholung dessen, was bereits in Syrien geschehen ist. Und was wir damals ignoriert haben.

Nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus

Meine Politisierung begann 1998 im Kosovokrieg, in den 1999 die NATO mit Luftschlägen eingriff. Ich war gerade 14 geworden und verstand vieles nicht, was NATO-Generalsekräter Javier Solana oder Außenminister Joschka Fischer im Fernsehen sagten. Ich glaubte zu verstehen, dass der serbische Präsident Slobodan Milošević Männer, Frauen und Kinder vertreiben und ermorden ließ – und dass ihn jemand aufhalten musste.

Ich erinnere mich auch noch an die Bilder vom Bielefelder Parteitag der GRÜNEN, an die Rede Joschka Fischers, mit der er Deutschlands Beteiligung an diesem Krieg rechtfertigte. Auf seinem Jackett waren noch deutlich die Spuren des Farbbeutels sichtbar:

„Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“

Ich denke heute oft an diese Rede. Auch ihretwegen bin ich Jahre später den GRÜNEN beigetreten – trotz des überzogenen Auschwitz-Vergleichs. Weil sich die Partei sich, als ihre pazifistischen Wurzeln mit der brutalen Realität kollidierten, damals als politikfähig erwiesen hat.

Putin darf keinen Erfolg haben

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine stehen wir wieder vor einer solchen Situation. Die Entwicklung zu Frieden, Freiheit und Demokratie hat sich abermals als nicht unumkehrbar erwiesen. Und anders als 1999 kann und darf die NATO heute unter keinen Umständen direkt eingreifen. Weil der Aggressor mit dem zweitgrößten Nuklearwaffenarsenal der Welt bewaffnet ist.

Und trotzdem muss Putin scheitern. Um der Ukraine willen – aber auch um unseretwillen. Denn wenn Putin Erfolg hat, wird er, werden andere einfach weiter machen. Ein wie auch immer teuer erkaufter Erfolg der russischen Föderation würde nicht nur die europäische Friedensordnung in Schutt und Asche legen, sondern gleich noch die traurigen Reste dessen, was wir mal die regelgebundene internationale Ordnung nannten.

Deswegen muss der „Westen“ in Einklang mit §51 der Charta der Vereinten Nationen Waffen an die Ukraine liefern. Deswegen ändern die Europäische Union und Deutschland ihre Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik – weil „soft power“ ohne eine glaubwürdige Abschreckungsfähigkeit manchmal überhaupt keine „power“ ist. Deswegen wird auch meine Partei diesen Aspekt ihrer Politik (erneut) neu justieren.

Aber deswegen können wir auch nicht – während in Mariupol diese Verbrechen passieren – weiterhin jeden Tag dem Regime von Wladimir Putin Geld für Öl und Gas überweisen. Dieses Geld – selbst wenn es nicht jetzt direkt den Krieg finanziert – dient mittelfristigen der Stabilisierung und Wiederaufrüstung des Regimes. Und umgekehrt destabilisieren bleibende deutsche Wirtschaftsverbindungen zum russischen Regime die Europäische Union und das transatlantische Verhältnis. Man sollte sich hier keine Illusionen machen: Wenn Deutschland jetzt nicht aussteigt, wird es noch einige Zeit von Russland abhängig bleiben. Und wenn Ukrainer*innen dies als Verrat empfinden, kann ich sie verstehen.

Ein Energieembargo gegen Russland würde Deutschland schwer treffen. Mehr als ein Drittel der Gasimporte wird derzeit in der Industrie verwendet, teils als Ausgangsstoff in der chemischen Industrie. Ein weiteres Drittel verbrauchen Haushalte, hauptsächlich zum Heizen. Diese Mengen sind kurzfristig nicht vollständig zu ersetzen. Man wird priorisieren müssen und wenn die Industrie bevorzugt beliefert wird, in den anderen Bereichen umso schärfer sparen. Das wird hart, vielleicht sehr hart.

Aber man wird sich fragen müssen, ob wir uns die Alternative leisten können – wirtschaftlich, geostrategisch, moralisch.