Wir haben es verkackt

EDIT: Ich hatte den Text zwischenzeitlich auf „privat“ gestellt, nachdem ich auf interne Aufarbeitungsprozesse hingewiesen wurde, die ich vorher noch nicht kannte. Nachdem jetzt teilweise Presse berichtet hat, habe ich ihn wieder online gestellt, damit Menschen nachlesen können, was ich wirklich gesagt habe.

Nach dem Wahlergebnis der GRÜNEN am Sonntag musste ich meinem Ärger mal Luft machen. Wenn die einen über Koalitionen spekulieren und andere wieder über die Kandidatin reden, finde ich: Wir müssen über diesen Wahlkampf sprechen.

Nach den Bundestagswahlen reden wir bei den GRÜNEN viel über Personen und Koalitionen. Wir sollten auch über Wahlkampf reden.

„Haben die GRÜNEN eine historische Chance verspielt?“ fragte der Moderator im SPIEGEL-Podcast „Stimmenfang“ von 23. September die eingeladene Expertin Melanie Amann. „Ich denk, ja. So einfach ist es“, antwortete diese sinngemäß.

Ich bin stinksauer. Mit 14,8 Prozent der Stimmen erzielten die GRÜNEN bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 zwar das beste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte, blieben aber deutlich hinter dem zurück, was möglich – und angesichts der historischen Herausforderungen v.a. des Klimawandels auch erforderlich – gewesen wäre. Denn im langfristigen Trend der Prognosen zwischen 2019 und 2021 bewegte die Partei sich im Korridor zwischen 20 und 25 Prozent. Teilweise als stärkste Kraft. Das war die Zielmarke. Wir müssen über den Wahlkampf reden – auch wenn sehr viele nun vor allem über Koalitionen reden wollen.

Nun weiß man es hinterher immer besser. Es ist sehr leicht, vom Spielfeldrand alles besser zu wissen. Aber vielleicht ist es diesem – um in der Fußballmetaphorik zu bleiben – Kreisklassentrainer ja erlaubt auszusprechen, was allen klar ist: Wir hatten es in der Hand und wir haben es – ganz nüchtern gesprochen – verkackt.

Die falsche Kandidatin?

Die naheliegende Erklärung, wir hätten schlicht die falsche Kandidatin nominiert, greift mir zu kurz – auch wenn eine junge Person ohne Exekutiverfahrung und mit Wahlerfolgen vor allem in der eigenen Partei eine sicherlich mutige Entscheidung war. Aber keine Mannschaft verliert nur wegen der Mittelstürmerin. In der Situation der Nominierung im April schien die Entscheidung jedenfalls nicht als Fehler und die sehr starke Leistung von Annalena Baerbock in den drei Triellen und anderen TV-Auftritten haben die Qualität der Kandidatin eindrucksvoll gezeigt.

Es ist heute unmöglich zu sagen, ob der Wahlkampf mit Robert Habeck als Kanzlerkandidaten grundlegend anders verlaufen wäre. Auch Robert macht Fehler, die ein politischer Gegner ausschlachten kann und bei denen man eine überzeugende Gegenstrategie hätte haben müssen (die wir nicht hatten). Und wenn man so weit in die hypothetischen Überlegungen geht, müsste man ja auch darüber nachdenken, ob man im grünen Selbstverständnis nicht konsequent auf diese Zuspitzung auf eine Person hätte verzichten müssen. Dann hätte man von der Dynamik und dem Zusammenspiel des Duos profitieren können – so überlegte nachdenkenswert der frühere CDU-Wahlkämpfer und Strategieberater Joachim Koschnicke im p&k Wahlcamp.

Was aber – glaube ich – gesagt werden muss: Für die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wäre ein deutlich besserer Wahlkampf möglich gewesen. Und auch einen Kandidaten Habeck hätten wir meiner Meinung nach mit hoher Wahrscheinlichkeit verschlissen. [EDIT] Es geht mir nicht um eine Kritik an Annalena Baerbock als Person oder als Wahlkämpferin. Es geht um die Kampagne. [/EDIT]

Unsere anfängliche Situationsbeschreibung war naiv

Der grundlegende Fehler dieses Wahlkampfs lag dem Augenschein nach schon in der anfänglichen Situationsanalyse. So beschrieb Ulrich Schulte in der taz vom 02. 09. 2021 am Rande in einem Satz, wie ich die Grundannahmen der grünen Kampagne wahrgenommen habe:

„Die Gesellschaft ist weiter, als die Große Koalition denkt, glaubt die Grünen-Spitze. Es brauche nur einen Stupser, dann beginne die ökosoziale Wende von selbst. Bereit, weil ihr es seid.“

Die gesellschaftliche Hegemonie als reife Frucht, die nur eines kleinen Stubsers bedarf, um in den geöffneten Mund grüner Parteistrategen zu fallen? Zumindest würde die Kampagne eine solche Wirklichkeitssicht nahelegen. Es ist ein ähnlicher Fehler in der Analyse, wie wir ihn in der Bundestagswahlkampagne 2013 (unvergessen die „Deutschland-Ist-Erneuerbar-Tour“) gemacht haben und wie er hinterher vom damaligen Spitzenkandidaten Jürgen Trittin klar analysiert wurde.

Die SPD wurde 2021 bereits am Boden gesehen – ihre Ablösung als Volkspartei der linken Mitte nicht als Ziel der Kampagne, sondern als deren Voraussetzung. Man setzte auf eine Zweikampfsituation mit der CDU, die wie von selbst dazu führen würde, die Stimmen des gemäßigt linken Lagers auf sich zu vereinen. Schließlich hatte man unter solchen Effekten selbst oft genug gelitten. Und hat es am Ende wieder.

Folge war dem Augenschein nach eine Kampagne, die ihre eigentliche kommunikative Aufgabe – die öffentliche Begründung des Machtanspruchs – dem Zeitgeist überlassen wollte. Bloß nicht polarisieren und damit Wähler*innen vergraulen. Wahlkampf im Instagram-Modus. Wesentlicher Teil davon war die mangelnde Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Weder hatten wir eine überzeugende Antwort auf die Angriffe gegen unsere Kanzlerkandidatin, noch eine eigene Angriffsstrategie. Anders ausgedrückt: Wenn man den expliziten Anspruch hat, die Union herauszufordern, sollte man nicht gleichzeitig Signale in die Richtung senden, am liebsten als Juniorpartner der Union in die Regierung einzusteigen.

Wir hatten keine überzeugende Wahlkampfstrategie

Der zweite größere Fehler gründete vielleicht in der umjubelten Kandidat*innenvorstellung im April 2021 – fünf Monate vor der Wahl. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste auch die Partei nicht, auf wen es hinauslaufen würde. (sic!) Der Zeitpunkt war zu spät, um die Kampagne organisatorisch und inhaltlich auf die Person an der Spitze zuzuschneiden. Um es klar zu sagen: Für die Kampagnenplanung ist eine solche Zeitplanung der reine Wahnsinn! (An dieser Stellen einen herzlichen Gruß an Martin Schulz und die SPD von vor vier Jahren.) Hinzu kam, dass augenscheinlich mit der Entscheidung nach außen die Führungsfrage nach innen nicht entschieden war. Stichwort: Teamlösung.

In der Folge hat die grüne Kampagne an keinem Punkt ein starkes Themen- und Kandidat*innenprofil jenseits des Klimathemas entwickelt. Die entscheidenden Fragen für eine Partei in der Herausforderer*innenposition haben wir nicht beantwortet: 1. Was läuft gerade falsch? 2. Wie muss es besser laufen? 3. Warum sind wir dafür die Richtigen? Und dabei ganz wichtig: Was hat das mit dir, liebe Wähler*in, zu tun? Nicht in den Printmaterialien, nicht in den Plakaten, nicht im Werbespot oder den Onlineanzeigen und leider auch nicht in Reden und Interviews.

Es mischten sich eine Annalena-Erzählung (Erneuerung), eine Robert-Erzählung (linker Patriotismus und Republikanismus) und das klassisch Grüne (für alles Gute und gegen das Böse). Eine solche Vielstimmigkeit, die parteiintern als etwas Gutes gesehen wird, bewirkt in der Außenkommunikation, dass keine der Botschaften durchdringt. Kaum erzählt wurde nach meiner Wahrnehmung übrigens der oben in der Analyse durchscheinende Narrativ vom Ergrünen der Gesellschaft – also dem Siegeszug grüner Themen in der viel zitierten gesellschaftlichen Mitte. Dies alles für spricht mangelnde Strategiefähigkeit. (Ebenso die mangelnde Fähigkeit, in der sich verschlechternden Situation vor der Wahl auf eine rot-grüne Koalitionsaussage zu setzen, um wenigstens das Abwandern taktischer Wähler*innen zur SPD zu verhindern.)

Zudem ist der Narrativ von Aufbruch und Erneuerung, der sich zunehmend als Kern der grünen Erzählung herausschälte, ein voraussetzungsreicher. Er setzt eine Unzufriedenheit der gesellschaftlichen Mehrheit mit dem Status Quo voraus. In einem Land, in dem die scheidende Bundeskanzlerin nach 16 Jahren Regierung Zustimmungswerte von 64 Prozent genießt, ist das eine durchaus… mutige Entscheidung. Und man muss sich fragen, ob diese Aufbruchserzählung zumindest handwerklich gut auserwählt (ausgewählt, auserwählt klingt in dem Kontext zu esoterisch) wurde. War der Wahlkampf einer, der von mutigen Ideen und kühnen Visionen lebte?

Wir haben stellenweise schlicht das Handwerk nicht beherrscht

Womit das Stichwort der handwerklichen Fehler gefallen wäre. Sie stellten nicht nur je für sich genommen ein Problem dar, sondern zusammengenommen den erklärten Anspruch der Kampagne (Wir sind bereit) fundamental in Frage.

Augenfällig sind die bekannten Stockfehler von Lebenslauf bis Buchprojekt, die vor allem davon künden, dass es der Annalena-Kampagne an Vorbereitungszeit mangelte und dass im entscheidenden Moment keine leistungsfähigen Strukturen aufgebaut waren, in die die Kandidatin Vertrauen gehabt hätte. Siehe oben zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung.

Auf der anderen Seite hat die Kampagne kaum daran gearbeitet, die Kandidatin als Führungspersönlichkeit zu profilieren. Wir haben erkennbar wenig dafür getan, Annalena als eine Person zu zeigen, die potenziell fähig sein kann, eine Regierung zu führen (Das Übliche: Bilder im Berater*innenkreis, Auslandsbesuche, betont staatstragende Wortbeiträge etc.) – und so die offensichtliche Schwäche der Kandidatin zu kompensieren. Hier fehlt es den GRÜNEN vielleicht an der Erfahrung mit Personenwahlkämpfen: Anstatt die Kandidatin zum Leuchten zu bringen und nach oben zu ziehen, hatte die Kampagne eher den Anspruch, die Kandidatin möge die Kampagne ziehen. Anstatt eine Kampagne von ihren objektiven Stärken und Schwächen her zu planen, wurde sie als Galionsfigur auf eine bestehende Kampagne gesetzt. So machen wir seit jeher Wahlkampf, wo wir sowieso keine Chance auf das Direktmandat oder das Bürgermeister*innenamt zu haben glauben.

Weniger geredet wird über eine schwache Plakatkampagne, die im Kern aus zehn sehr ähnlich aussehenden Themenplakaten mit Texten von hoher Allgemeinheit bestand. Eine politische Botschaft war der Plakatkampagne nicht zu entnehmen und der Kontrast zwischen weißer Schrift und hellem grün war so gering, dass die Plakate aus 50 Metern Entfernung nicht mehr zu lesen waren. Die anfänglich positiven Bewertungen der Plakatlinie haben mich schon damals sehr gewundert.

Zu reden wäre auch über das gedruckte Wahlkampfmaterial für den Einsatz an Ständen und im Haustürwahlkampf. Hier fehlte für mein Empfinden ein klares Konzept, welches Material für welchen konkreten Zweck im Wahlkampf konzipiert ist (mit Ausnahme des Haustürwahlkampfflyers). Ich meine: In welchem konkreten Szenario wird ein Material eingesetzt und welche Botschaft transportiert es? Und was waren eigentlich unsere drei inhaltlichen Kernforderungen, die jede*r am Ende benennen konnte?

Und da war ein erster Werbespot, der im positiven Sinne mutig war im Rückgriff auf nationales Liedgut und dem klaren Willen, Milieugrenzen zu sprengen. Ich mochte diesen Spot. Das Video wirkte aber nicht wie ein Teil der Gesamtkampagne, sondern stand für sich. Ein Entschlüsseln des anspielungsreichen Spots war weder von den Plakaten her möglich noch von den Reden der Kanzlerkandidatin her – sondern vielleicht am ehesten aus den Büchern von Robert Habeck und der Sozialtheorie von Armin Nassehi. Auch hatte der Inhalt des Spots nichts mit dem Wahlkampfclaim zu tun und stand mit diesem in keiner erkennbaren Beziehung. Zu dem Claim „Bereit, weil ihr es seid“ hätte man eine Geschichte von der Staatsparteiwerdung der Grünen und der Grünwerdung der Gesellschaft erzählen können. Auch diese Inkongruenz ist ein echter handwerklicher Fehler.

Was tun?

Wir sollten nicht auf den Gedanken kommen, auf Grund dieses Ergebnisses die Prozesse der thematischen Verbreiterung und der gesellschaftlichen Öffnung zurück abzuwickeln. Wenn nach der Flutkatastrophe in NRW das Klimathema nur für ein Ergebnis von knapp 15 Prozent gereicht hat, ist das der Korridor. Wer Mehrheiten für eine sozial-ökologische Politik gewinnen will, muss breiter ansetzen.

Aber die Kampagnenplanung für die nächste Bundestagswahl muss meiner Meinung nach deutlich früher und mit einer diesmal realistischen Bestandsaufnahme beginnen. Und wir müssen die Fähigkeit entwickeln, bundesweite Kampagnen von Personen her zu entwickeln und konsistent zu führen. Strategisch und strukturell. Dann kann es in vier Jahren anders ausgehen.

Und in der Zwischenzeit: Eine stabile Regierung bilden, gut regieren, das Klima (ein bisschen) retten. Nichts einfacher als das.

Teil 3 – Auf der Suche nach der politischen Botschaft

Ich hatte das große Glück, von Juni bis November 2019 den Wahlkampf von Belit Onay in Hannover leiten zu dürfen. Dieser Text ist der dritte Teil einer kleinen Serie über diesen Wahlkampf und berichtet von der nicht ganz einfachen Suche nach der Kernbotschaft. Dabei habe ich mich aus Gründen der Lesbarkeit nicht immer strikt an die historische Reihenfolge gehalten…

Horror Vacui

Am Anfang lag auf meinem Schreibtisch ein leeres, leicht gräuliches Blatt Recyclingpapier. Darauf kritzelte ich mit einem Kugelschreiber ein Dreieck. An die Ecken schrieb ich: Belit Onay, Hannover, GRÜNE. Im Verlauf der kommenden Tage kamen viele weitere Begriffe auf dem Blatt dazu, auf dem sich auch immer mehr Kaffeeflecken und mühsam geglättete Falten sammelten. Doch die Mitte des Dreiecks blieb leer. Es fehlte das richtige Wort.

Wahlkämpfe sind keine Werbekampagnen

Mein Denkmodell für die inhaltliche Wahlkampfplanung ist recht einfach: Wahlkampagnen sind Akte öffentlicher Kommunikation, die die Frage beantworten müssen: „Warum soll ich dich wählen?“ Sie unterscheiden sich insbesondere von Werbekampagnen, weil bei Wahlen über die Richtung abgestimmt wird, die eine ganze Stadt oder ein Land einschlägt. Deshalb müssen Wahlkampagnen Überzeugungen schaffen und nicht nur ein Kaufverlangen erzeugen.

Die politische Botschaft einer Wahlkampagne ist zusammenfassend und zuspitzend ihre Antwort auf die Frage „Warum soll ich dich wählen?“ – die Richtung, für die einE KandidatIn oder eine Partei antritt. Sie ermöglicht damit die Wahlentscheidung als Richtungsentscheidung. Legendär ist das Wahlplakat Konrad Adenauers „Keine Experimente!“ – gut finde ich zum Beispiel auch Gerhard Schröder (2002) „Der Kanzler der Mitte.“ oder die GRÜNEN in Bayern (2018) „Mut geben statt Angst machen“. In diesen Fällen drücken die Wahlplakate den Kerngedanken der Kampagnenbotschaft aus.

Bei Kommunalwahlen ist diese Aufgabe besonders schwer. Ich erinnere mich noch an das Großflächenplakat der CDU: „5 Kinder. 4 Enkel. 1 Plan.“ Auf anderen Plakaten war zu lesen: „Stadt für alle statt für wenige!“, „Endlich sicher, sauber und sozial!“ und „Frische Luft für Hannover!“ Die SPD plakatierte: „Hannover. Besser. Machen.“ sowie „Hannover. Kindgerechter. Machen.“, „Hannover. Bezahlbarer. Machen.“ und „Hannover. Klimafreundlicher. Machen.“ Im Übrigen waren beide Plakatlinien klassisch gestaltet: Das Kandidatenportrait war freundlich lächelnd auf einen Hintergrund montiert, dazu einige weitere Bildelemente und zu viel Text.

Was beiden Plakatlinien aus meiner Sicht fehlte, war eine klare politische Botschaft. Für welche Werte standen die Kandidaten von SPD und CDU? Für welche Richtung der Politik kämpften sie? Was war die Idee für Hannover, die die politischen Einzelvorschläge zusammenhält? Neustart wohin? Besser inwiefern? Bezahlbarer wie? (Und seit wann existiert zu „bezahlbar“ eine Steigerungsform?) Für mich wurden diese Fragen im weiteren Verlauf des Wahlkampf nicht beantwortet.

Auch wir taten uns schwer.

Mehr als die Suche nach dem richtigen Wort

Wir hatte zu einem frühen Zeitpunkt in der Kampagne ein Beratungsgremium eingerichtet, in dem wir grundsätzliche strategische Fragen zu Positionierung und Thematik besprechen wollten. Es waren Menschen mit politischer Erfahrung dabei, die die Stadt gut kennen, darunter auch zwei frühere OB-KandidatInnen.

Was uns fehlte, war das Wort in der Mitte des Dreiecks: der eine Begriff, der zu unserem Kandidaten, zu unserer Partei und zur Situation in Hannover passt, die Zusammenfassung unserer politischen Botschaft in einem Wort.

Als wir uns trafen, bestand Einigkeit: Hannover ist eine im Kern sozialdemokratisch denkende Stadt, die aber nach 70 Jahren ununterbrochener Herrschaft, einer Rathausaffäre und vielen aufgelaufenen Problemen der SPD überdrüssig war. Aber einen völligen Politikwechsel wollte nach unserer Einschätzung die Mehrheit der HannoveranerInnen nicht. Wir hätten einen Kursänderung um 180 Grad nach 30 Jahren grüner Regierungsbeteiligung nicht glaubhaft vertreten können und wollen. Wie also die latente Wechselstimmung nutzen?

Wir GRÜNE hatten bundesweit gerade einen Lauf. Den Parteivorsitzenden wurde bis zum Kanzleramt alles zugetraut und es gab viel frischen Rückenwind. Unser Kandidat brachte neben großem persönlichen Charisma seine Geschichte mit, die ihn vom Gastarbeiterkind und sprichwörtlichen Tellerwäscher zum Landtagsabgeordneten geführt hatte. Doch es mangelte ihm an der beruflichen Führungserfahrung, die ihn zur „natürlichen“ Alternative zum SPD-Kandidaten gemacht hätte. „Keine Experimente!“ schied als Wahlkampfslogan jedenfalls aus.

Aber welcher Begriff funktionierte? Mit dem Vorschlag „Neuanfang“ blitzte ich zum Glück eiskalt ab. Es wäre keine überzeugende Antwort auf die Frage „Warum soll ich dich wählen?“ gewesen. Neuanfang wohin und wozu? Wollen wir auch das über Bord werfen, was wir in den letzten Jahren schon erreicht hatten? Und wo bleibt unser grüner programmatischer Anspruch? Darauf hatte ich keine Antwort. Recht niedergeschlagen kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück.

Zurück ans Zeichenbrett

In den folgenden Tagen las ich viele Zeitungsartikel und Verwaltungsdokumente und erarbeitete ich mir folgende Analyse:

Die SPD hatte in Hannover schon in den Jahren unter Stephan Weil eine relativ progressive, grünen-nahe Rhetorik und Programmatik. Doch es klaffte eine große Lücke zwischen den PR-Terminen und der tatsächlichen Politik. So gab es umfängliche Verfahren zur BürgerInnenbeteiligung, die aber oft wenig Einfluss auf das Verwaltungshandeln hatten. So hab es einen Masterplan Verkehrsentwicklung, der im Inhaltsverzeichnis und in den strategischen Zielen den öffentlichen Nahverkehr und das Fahrrad in den Vordergrund schob – relativ versteckt bei den Maßnahmen aber eine Bestandsgarantie für die autogerechte Stadt enthielt. So gab es eine ausgeprägte soziale Rhetorik, zu der eine dem Anschein nach bewusst abschreckende Gestaltung der Obdachlosenunterkünfte in Widerspruch stand. Und so weiter. Den Grund dafür vermutete ich darin, dass jede echte Veränderung den Machterhalt gefährdet hätte. Doch mit den Jahren merken Menschen, wenn echte Probleme nur scheinbar angepackt werden. Und die Probleme bei der Verwaltungsführung ließen sich spätestens mit der „Rathausaffäre“ nicht mehr verbergen.

Den zweiten, wichtigeren Teil der Analyse verdanke ich eigentlich Inga und einer Kaffeepause. Inga arbeitet im Wahlkreisbüro des grünen Bundestagsabgeordneten und kommt ursprünglich aus dem Kulturmanagement. Wir unterhielten uns über das besondere Profil von Belit: den gewissen Coolness-Faktor, der anderen Politikerinnen und Politikern meist fehlt; den sogenannten Migrationshintergrund und was es für Hannover bedeuten könnte, jemanden mit einer solchen Geschichte zum Oberbürgermeister zu wählen. Ich schilderte ihr einen Eindruck: Hannover hat ein durchaus gespaltenes Selbstbild. Einerseits ist sie stolz auf die eigene Beschaulichkeit, die hohe Lebensqualität und das größte Schützenfest der Welt. Andererseits will die Landeshauptstadt nicht nur kulturell im Konzert der großen Städte mitspielen. Dieses Weltstädtische zu verkörpern, trauten wir in Hannover weder CDU noch SPD zu.

So schälte sich allmählich eine Strategie heraus: In Stil und Auftreten würde Belit für eine moderne, weltoffene und – ja – coole Großstadt Hannover stehen. Belit Onay packt an, worüber die SPD jahrelang nur redete. Wo Stefan Schostock zunehmend aus Angst und politischer Schwäche Entscheidungen gemieden hat, vermittelt Belit eine Stimmung des „Wir schaffen das“. Das Beste: Dafür musste er sich nicht einmal verbiegen.

Un irgendwann platzte der Knoten. Ich glaube mich zu erinnern, dass ein hörbares Aufatmen durch das Beratungsgremium ging, als ich bei unserem nächsten Treffen einen neuen Begriff in die Runde warf:

Wir wollten zusammen mit Hannover einen Aufbruch wagen.

Teil 2 – Teambuilding

Ich hatte das große Glück, von Juni bis November 2019 den Wahlkampf von Belit Onay in Hannover leiten zu dürfen. Dieser Text ist der zweite Teil einer kleinen Serie über diesen Wahlkampf und erzählt von dem Team, das Belits Wahlkampf organisiert hat.

Meinungsforschung

Am 21. Oktober 2019 hatte mein Zug am Morgen Verspätung. Als ich ankam, platzte im Grünen Zentrum der kleine Sitzungsraum aus allen Nähten. Alle redeten euphorisch durcheinander, klopften sich gegenseitig auf die Schulter und analysierten und feierten – die eigentlichen Teammitglieder, die Parteivorsitzenden und Gäste aus der Geschäftsstelle der Fraktion. Mittendrin Belit, der gelöst aber auch ein wenig perplex wirkte. Am Samstag zuvor hatte die Hannoversche Allgemeine Zeitung eine repräsentative Umfrage veröffentlicht. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa sah uns mit 26 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz – nur zwei Punkte hinter der CDU und drei Punkte vor der SPD. Das war eine Woche vor dem ersten Wahlgang. Ich begrüßte das versammelte Team mit „Ich sehe, die Stimmung ist im Keller.“ Alle lachten und wir begannen mit unserer Teambesprechung.

Wahlkampf ist Exekutive

Oft funktionieren Teams bei den GRÜNEN ungefähr so: Alle machen mit, die mitmachen wollen. Alle reden zu allem und es wird üblicherweise so lange diskutiert, bis es einen Konsens gibt – oder halt auch nicht. Wenn sich alle einig sind und es gut läuft, fragt jemand: Wer setzt den Beschluss jetzt um? Das ist der Moment, an dem alle ihre Fingernägel auf Zeichen von Kalziummangel untersuchen. Es ist ein großartiger Weg, einen Wahlkampf zu verlieren.

Wir wollten es anders machen. In unserem Team hatte jedeR eine eigene Aufgabe: Heike war für die Pressearbeit zuständig, Franzi für Social Media; Christopher koordinierte die Kandidatentermine, Elke organisierte Veranstaltungen; Anna begleitete den zentralen Straßenwahlkampf, Liam den Haustürwahlkampf und Jürgen sorgte für die Logistik. Hinzu kam Jan als Fotograf und vier HelferInnen fürs Plakatieren. Fast alle erhielten zeitlich begrenzte Arbeitsverträge oder waren von anderen Parteigliederungen ausgeliehen – ein großer Teil des Gesamtbudgets floss in Personal. Nicht vergessen werden dürfen Hannes und Sascha, die mit uns zum Anfang der Kampagne die großartige Plakatlinie entwickelten – und natürlich geschätzt über 200 Freiwillige, die auf der Straße und den Plätzen, an Haustüren und Infoständen Wahlkampf machten.

Meine eigene Aufgabe war es, das Team zu leiten. Ich traf die meisten operativen Entscheidungen, während Belit in der Stadt Wahlkampf machte. Der Verzicht auf Mehrheits- und Konsensentscheidungen war für viele Teammitglieder zunächst sichtlich gewöhnungsbedürftig, auch für mich. Ich will eigentlich lieber überzeugen als anordnen. Es kratzte irgendwie am grünen Selbstbild. Bis zuletzt legte ich deshalb Wert darauf, meine Entscheidungen zu begründen – auch wenn Einige die Augen verdrehten und lieber schnell weitermachen wollten.

Zum Glück hatten wir in Hannover einen Stadtvorstand, der hinter dieser Linie stand und einen Verband, der damit leben konnte. Im Wahlkampf geht es um Schnelligkeit und Einheitlichkeit der Kommunikation – und damit um klare Zuständigkeiten und klare Entscheidungswege. Wahlkampf ist Exekutive – die legitimierende politische Grundsatzentscheidung fällt vorher auf der Mitgliederversammlung. Dieser Zeit- und Entscheidungsdruck war für uns noch größer, weil der Wahlkampf vorzeitig kam und wir weit weniger Vorlauf hatten als üblicherweise.

Nach dem Wahlkampf sagte Ludwig, einer der Vorsitzenden, er habe mich noch nie so autoritär erlebt wie in dieser Zeit. Ich glaube, es war als Kompliment gemeint.

Mondays for micromanagement?

Nicht immer war auf unseren Teambesprechungen die Stimmung so gut wie in der am Anfang des Textes Geschilderten. Vor allem am Anfang fochten wir Runde um Runde, ob das „Wagen“ in „Wagen wir den Aufbruch!“ nicht unseren eigenen Kandidaten in Frage stellte. Dem waren bereits stundenlange Debatten vorausgegangen, in denen wir feststellten, dass niemandem ein besseres Wort als „Aufbruch“ einfallen würde. Doch diesen Punkt ließen wir hinter uns.

Zum Ende der Kampagne liefen die Besprechungen sehr diszipliniert ab. Montags reflektierten wir im Kernteam mit Belit kurz die Termine der letzten Woche und bereiteten anschließend die Termine der kommenden Woche vor: Welche inhaltliche Vorbereitung ist nötig? Wer begleitet Belit? Wer macht Fotos? Wird der Termin für soziale Medien aufbereitet? Wenn nach „Rückblick-Ausblick“ noch Zeit war wir sie uns nahmen, sprachen wir über das Programm und unsere eigenen Initiativen. Die Teammitglieder brachten offene Fragen aus ihrem jeweiligen Bereich ein, es wurden Argumente ausgetauscht und am Ende entschied ich, wie es gemacht würde. Belit hatte in allen Angelegenheiten das letzte Wort. In der Umsetzung agierten die jeweils Verantwortlichen dann sehr selbstständig – für Mikromanagement wäre überhaupt keine Zeit gewesen.

Mittwochs trafen wir uns (eigentlich) ohne Belit. Es ging um Organisatorisches: Plakatwerbung, Veranstaltungen, Infostände, Logistik. Wann kommen die Flyer? Wie weit sind die Vorbereitungen zum Dreh unserer Videoclips? Wie oft kann der Kandidat die Infostände der Stadtteilgruppen besuchen, ohne Zeit für alle anderen wichtigen Termine zu blockieren? Oft haben wir aber auch die inhaltlichen Dinge besprochen, die wir am Montag nicht mehr geschafft haben.

Der zweitwichtigste Erfolgsfaktor

Ich glaube, dass dieses Team am Ende der wichtigste Faktor für den Wahlerfolg war – nach dem Kandidaten selbst natürlich. Mein erster Rat an andere Wählkämpfende wäre deshalb, sich am Anfang des Wahlkampf gründlich Gedanken über Aufbau- und Ablauforganisation desselben zu machen, Geld in Personal zu investieren und keine Angst vor (maßvoll) hierarchischen Strukturen zu haben.

Bis das Team vollständig war, sollte es allerdings noch bis etwa fünf Wochen vor der Wahl dauern. Am Tag von Belits Nominierung zum Kandidaten war ich der einzige bezahlte Wahlkämpfer. Damit waren wir in dieser Frage aber schon weiter als bei der anderen, mindestens ebenso wichtigen: Warum sollten die Hannoveranerinnen und Hannoveraner Belit eigentlich wählen?

Teil 1 – Unser Wahlkampf um Hannover

Wagen wir den Aufbruch!

Spät am 10. November 2019 stand ich im Rathaus der Landeshauptstadt Hannover und fühlte mich vor allem: müde. Alle anderen standen in der Eingangshalle des Rathauses und jubelten unserem Kandidaten zu. Mit 52,9 Prozent der Stimmen war Belit Onay gerade zum ersten grünen Oberbürgermeister der Stadt gewählt worden. Dass in Hannover ein Grüner eine Mehrheit erringen könnte, war eigentlich unvorstellbar. Die Stadt gilt auch heute im Kern als sozialdemokratisch. Seit dem zweiten Weltkrieg wurde Hannover von der SPD regiert – die Partei wurde hier neu gegründet. Aus Hannover kamen der amtierende SPD-Ministerpräsident Stephan Weil und der letzte SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Und nun der erste grüne Oberbürgermeister in Norddeutschland.

Ich hatte das große Glück, seit Juni 2019 den Wahlkampf von Belit Onay leiten zu dürfen – und das noch größere Glück mit einem grandiosen Team und einem unglaublichen Kandidaten am Ende vorn zu liegen. Dieser Text soll eine kleinen Serie beginnen, die von unseren fünf Monaten gemeinsamen Wahlkampfs erzählt. Ich hoffe, dass andere grüne Wahlkämpfende von unseren Erfahrungen profitieren können.

Was bisher geschah

Vielleicht muss man fragen, ob der Machtverlust der SPD in Hannover schon zu einer Zeit begann, als Stephan Weil noch Oberbürgermeister war. Viele der Probleme Hannovers können sich eigentlich nicht in den fünf Jahren entwickelt haben, die Stefan Schostock das Amt innehatte. Als Weil 2013 Ministerpräsident wurde und Hannover den früheren SPD-Fraktionsvorsitzenden Schostok zum neuen Oberbürgermeister wählte, hatte dieser von Anfang an Probleme, das Rathaus zu führen. Schostok verließ sich weitgehend auf seinen Büroleiter Frank Herbert – bis es 2018 zum Zerwürfnis zwischen Herbert und dem Personaldezernenten Harald Härke kam. In der folgenden Schlammschlacht um unrechtmäßige Lohnzulagen und Ämterpatronage, erhob die Staatsanwaltschaft Hannover Anklage wegen Untreue gegen Schostok und Härke, wegen Anstiftung gegen Herbert. Inzwischen wurde Schostok in erster Instanz von dem Vorwurf freigesprochen – ein Vorsatz war ihm am Ende nicht nachzuweisen.

Am 30. April 2019 beantragte Stefan Schostok gemäß § 84 des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes seine Versetzung in den Ruhestand, was einem Rücktritt gleichkommt. Hannover befand sich im Wahlkampf. Die SPD nominierte sehr schnell den früheren Kämmerer Marc Hansmann, einen für grüne Themen aufgeschlossenen Experten für Kommunalfinanzen. Damit überrumpelte sie uns und hatte zunächst die beste Ausgangsposition für den beginnenden Wahlkampf. Die CDU entschied sich nach einigem Suchen für den parteilosen früheren Vorstandsvorsitzenden von Volkswagen Nutzfahrzeuge, Eckard Scholz. Und nach einem parteitypisch komplexen Auswahlprozess wurde auf der Mitgliederversammlung am 10. Juni 2019 Belit Onay unser Kandidat – grüner Landtagsabgeordneter, studierter Jurist und Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie.

Die Ausgangslage

Alle drei Kandidaten hatten offensichtliche Angriffspunkte: Marc Hansmann würde als früheres Mitglied des „Kabinetts Schostok“ Probleme haben, den Skandal hinter sich zu lassen – zumal der Filz-Vorwurf an der SPD klebte wie ein alter Kaugummi. Eckard Scholz war unvertraut mit dem politischen Terrain und hatte ein dem Augenschein nach zu technisches Politikverständnis – sein Wirtschaftshintergrund war ein zweischneidiges Schwert. Und Belit hatte bisher keine Erfahrung im Führen größerer Organisationen gesammelt – eine große Hypothek in einer Gesellschaft, die vor allem auf formale Qualifikationen achtet. Dafür hatte Belit den anderen Kandidaten entscheidende Dinge voraus: Charisma, politische Leidenschaft und eine Geschichte, die seiner Politik Glaubwürdigkeit verleiht.

Bei der Europawahl 2019 waren die GRÜNEN in Hannover mit zehn Punkten Vorsprung stärkste Kraft geworden. Demoskopisch konnten wir zum ersten Mal auf Augenhöhe mit SPD und CDU antreten. Unser Problem: Bei den finanziellen und personellen Ressourcen waren wir lange nicht auf Augenhöhe. Wir rechneten mit einer sechs- bis siebenfachen finanziellen Überlegenheit der „Volksparteien“ – und waren damit noch optimistisch, wie sich herausstellte. In der Parteigeschäftsstelle verfügte der Stadtverband über eine Vollzeit-Geschäftsführung (mich) und zwei Verwaltungskräfte mit wenigen Stunden.

Als ich Belit fragte, ob er sich vorstellen könne, dass ich seinen Wahlkampf leite – so lautete der Vorschlag des Vorstands – schaute er mich einen Augenblick überrascht an und bejahte dann. Für ihn, so mein Eindruck, war das überhaupt keine Frage.

Erste Schritte

Dieser Wahlkampf war in zweierlei Hinsicht besonders: Erstens war es eine Direktwahl für ein exekutives Amt, die es im politischen System der Bundesrepublik so nur auf kommunaler Ebene gibt. Mehr als bei anderen Wahlen trat deshalb die Partei mit ihrem Profil gegenüber der Person in den Hintergrund. Zweitens fand zeitgleich nirgendwo eine andere Wahl statt – weder in Niedersachsen noch im Bund. Es würde keine vorgefertigten Plakatlinien etc. geben, deren Botschaften zwangsläufig überall passen müssen und die entsprechend allgemein sind.

Wir hatten also die Möglichkeit, einen von Grund auf auf unseren Kandidaten und auf Hannover zugeschnittenen Wahlkampf zu führen. Dadurch gab es die Chance, uns von unseren Mitbewerbern abzuheben und anders wahrnehmbar zu sein. Der Nachteil: Wir mussten von Grund auf alles selber machen – und dazu brauchten wir zuerst einmal ein Team.