Rettet die Aufklärung!

Über Olaf Scholz, Wissenschaftsfeindlichkeit und die Demokratie

Anlass für diesen Text ist ein Interview, dass Bundeskanzler Olaf Scholz am gestrigen Sonntag, den 28. März 2022 der Journalistin Anne Will in der ARD gab. Auf die kritische Nachfrage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit eines Energieembargos gegen die Russische Föderation aufgrund des Überfalls auf die Ukraine antwortete Scholz:

„Die [Wirtschaftswissenschaftler, die das für möglich halten,] sehen das aber falsch und es ist ehrlicherweise unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht wirklich funktionieren. Ich kenne in der Wirtschaft überhaupt niemanden, dass das [ein Produktionsstopp in ganzen Industriezweigen] die Konsequenzen wären.“

Scholz unterliegt hier einerseits der verbreiteten Verwechslung von betriebswirtschaftlicher Erfahrung und volkswirtschaftlicher Expertise, sie seit Jahren und Jahrzehnten in Deutschland zu schlechter Wirtschaftspolitik führt. Ständig wird das Interesse einzelner großer Unternehmen mit guter Wirtschaftspolitik verwechselt (im Extremfall bis hin zu Ministererlaubnissen für Unternehmensfusionen, die zu marktbeherrschenden Stellungen führen).

Die Sätze von Scholz haben mich aber aus einem anderen Grund erschreckt: Sie passen gut zu zahllosen ähnlichen Sätzen, die während der Corona-Pandemie von Politiker*innen über epidemiologische Modellierer*innen gesagt wurden. (Die übrigens im Nachhinein sehr oft recht behielten.) Es geht also nicht nur – nicht mal in erster Linie – um Scholz. Aus seinen Sätzen spricht eine in der Politik verbreitete Geringschätzung von Wissenschaftler*innen und der wissenschaftlichen Methode. Und damit letztlich des Weltbildes der Aufklärung.

Dialektik der Aufklärung

Aufklärung war – dem berühmten Diktum Kants zufolge – der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. In der Epoche zwischen ca. 1650 (René Descartes) und 1800 (Immanuel Kant) wagten Menschen den Versuch, durch eigenes Denken – und ohne den Umweg über Offenbarung und Tradition – zu einer Erkenntnis von Wirklichkeit zu gelangen.

Die moderne wissenschaftliche Methode ist Kind dieser Epoche. Sie versucht, Wirklichkeit ausschnittsweise in (oft mathematischen) Modellen abzubilden und überprüft diese Modelle dann empirisch. So gelangt sie zu allgemeinen, gesetzmäßigen Aussagen, die Voraussagen über komplexe Zusammenhänge ermöglichen. Der Mensch kann durch die den eigenen konkreten Erfahrungshorizont und die Grenzen der eigenen sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit übersteigen. Moderne Mobiltelefone, Computer, Internet oder auch nur die Teflonpfanne – sie wären ohne die wissenschaftliche Methode nicht vorstellbar.

Weitere Kinder dieser Epoche sind die in Geschwisterrivalität verbundenen Zwillinge Republikanismus und Liberalismus. Darunter verstehe ich erstens den Gedanken, dass es Staatlichkeit um ein öffentliches Gut zu gehen habe und nicht um das Interesse eines Herrschers. Und zweitens den Gedanken, dass sich legitime Staatlichkeit letztlich nur von den Freiheits- bzw. Menschenrechten der Einzelnen ableiten kann.

Die beiden Aspekte – Wirklichkeitsorientierung und Republikanismus/Liberalismus – bedingen einander. Auf der einen Seite ist die Freiheit des Menschen eine Bedingung für wissenschaftliche Erkenntnis – diese funktioniert nur durch Abweichung und Kritik. Und auf der anderen Seite ist es gerade eine Orientierung an Wirklichkeit, die Republikanismus und Liberalismus vor einem Abgleiten in Ideologie bewahren. So ist es ein regelmäßiger „Realitätscheck“ in Form freier, gleicher und geheimer Wahlen, der aus dem freien Wollen Einzelner eine legitime Herrschaft ableitet.

Aber ebenso erforderlich ist es halt auch, dass das, was „öffentliches Interesse“ ist, konzeptionell gegründet ist auf einem bestmöglichen Verständnis dessen, was möglich und wirklich ist.

Erkenntnistheoretischer Nihilismus

Was mich an der Politik erschreckt, die Olaf Scholz zum Ausdruck gebracht hat, ist ihr erkenntnistheoretischer Nihilismus. Es ist eine Politik, die sich nicht an wissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnis orientieren will, weil sie wissenschaftliches Wirklichkeitserkenntnis letztlich für unmöglich (oder störend) hält. Deshalb beschränkt sie sich auf Erfahrungen, auf das Subjektive, auf „Fahren auf Sicht“. Und auf jene „Expertenmeinungen“, die mit der eigenen Sicht übereinstimmen.

Politik verkommt so zum freien Spiel von Meinung und Gegenmeinung, bei dem immer die eigene Meinung die richtige ist. Irrtum ist methodisch ausgeschlossen, weil eine die eigene Erfahrungswelt übersteigende Erkenntnisquelle methodisch ausgeschlossen ist. Gerade diese Politik lässt unter dem Signum der Ideologiefreiheit den Ideologien (und seien es aus dem Lobbyismus geborene) den maximalen Raum, weil sie sich selbst des kritischen Moments der Vernunft beraubt. Und so sehr dies Olaf Scholz zuwider laufen dürfte: Diese Haltung führt schnell in eine Welt der alternativen Fakten und „fake news“, bei der zur Not ganze „Wissenschaften“ erfunden werden, um die eigene Position zu untermauern. Und irgendwann retten auch formal freie Wahlen die Demokratie nicht mehr.

Insofern muss die Forderung an Politik und Journalismus, an Wissenschaft und Öffentlichkeit lauten: Rettet die Aufklärung! Fordert eine Politik ein, die sich an den besten Wirklichkeitsbeschreibungen orientiert, die ihre Zeit zu bieten hat! Rehabilitiert den öffentlichen Vernunftgebrauch! Lasst uns Politiker*innen nicht mit unseren Wordings und Narrativen und dem Fahren auf Sicht durchkommen!

Und Übrigens: Im Wahlkampf hat Olaf Scholz den Altkanzler Helmut Schmidt als sein großes Vorbild gezeichnet. Helmut Schmidt war Ökonom.

Weil Putin scheitern muss

Vom Schrecken des Krieges und politischer Verantwortung

Eine Frau liegt mit schockgeweitetem Blick auf einer Trage, die von Rettungskräften durch eine Trümmerlandschaft getragen wird. Ihr Gesicht ist bleich, unter dem hochgerutschten Pullover ist deutlich ihr vorgewölbter Bauch zu sehen, darunter das Rot von Blut. Schnee fällt. Oder Asche.

In der ukrainischen Stadt Mariupol hat eine russische Bombe eine Geburtsklinik getroffen.So berichtet unter anderem der SPIEGEL. Berichte dieser Art häufen sich. Eine Evakuierung der Stadt ist gescheitert. Vereinbarte Fluchtkorridore wurden beschossen, heißt es. Oder sie waren vermint.

Ich habe Bilder von russischen Schmetterlingsminen gesehen – kleine Minen, die in großer Zahl aus einem Flugzeug heraus verteilt werden. Sie sollen nicht töten. Sie sollen eine Hand, einen Arm, einen Fuß abreißen – weil Schwerverwundete den Feind stärker behindern als Tote. Sie sehen aus wie Kinderspielzeug.

In Mariupol soll ein Exempel statuiert werden, so scheint es. „Seht, was geschieht, wenn ihr weiter Widerstand leistet.“ Statt der Reden des Präsidenten sollen die Handys der Ukrainer*innen den Schrecken des Krieges verbreiten.

Es ist eine Wiederholung dessen, was bereits in Syrien geschehen ist. Und was wir damals ignoriert haben.

Nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus

Meine Politisierung begann 1998 im Kosovokrieg, in den 1999 die NATO mit Luftschlägen eingriff. Ich war gerade 14 geworden und verstand vieles nicht, was NATO-Generalsekräter Javier Solana oder Außenminister Joschka Fischer im Fernsehen sagten. Ich glaubte zu verstehen, dass der serbische Präsident Slobodan Milošević Männer, Frauen und Kinder vertreiben und ermorden ließ – und dass ihn jemand aufhalten musste.

Ich erinnere mich auch noch an die Bilder vom Bielefelder Parteitag der GRÜNEN, an die Rede Joschka Fischers, mit der er Deutschlands Beteiligung an diesem Krieg rechtfertigte. Auf seinem Jackett waren noch deutlich die Spuren des Farbbeutels sichtbar:

„Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“

Ich denke heute oft an diese Rede. Auch ihretwegen bin ich Jahre später den GRÜNEN beigetreten – trotz des überzogenen Auschwitz-Vergleichs. Weil sich die Partei sich, als ihre pazifistischen Wurzeln mit der brutalen Realität kollidierten, damals als politikfähig erwiesen hat.

Putin darf keinen Erfolg haben

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine stehen wir wieder vor einer solchen Situation. Die Entwicklung zu Frieden, Freiheit und Demokratie hat sich abermals als nicht unumkehrbar erwiesen. Und anders als 1999 kann und darf die NATO heute unter keinen Umständen direkt eingreifen. Weil der Aggressor mit dem zweitgrößten Nuklearwaffenarsenal der Welt bewaffnet ist.

Und trotzdem muss Putin scheitern. Um der Ukraine willen – aber auch um unseretwillen. Denn wenn Putin Erfolg hat, wird er, werden andere einfach weiter machen. Ein wie auch immer teuer erkaufter Erfolg der russischen Föderation würde nicht nur die europäische Friedensordnung in Schutt und Asche legen, sondern gleich noch die traurigen Reste dessen, was wir mal die regelgebundene internationale Ordnung nannten.

Deswegen muss der „Westen“ in Einklang mit §51 der Charta der Vereinten Nationen Waffen an die Ukraine liefern. Deswegen ändern die Europäische Union und Deutschland ihre Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik – weil „soft power“ ohne eine glaubwürdige Abschreckungsfähigkeit manchmal überhaupt keine „power“ ist. Deswegen wird auch meine Partei diesen Aspekt ihrer Politik (erneut) neu justieren.

Aber deswegen können wir auch nicht – während in Mariupol diese Verbrechen passieren – weiterhin jeden Tag dem Regime von Wladimir Putin Geld für Öl und Gas überweisen. Dieses Geld – selbst wenn es nicht jetzt direkt den Krieg finanziert – dient mittelfristigen der Stabilisierung und Wiederaufrüstung des Regimes. Und umgekehrt destabilisieren bleibende deutsche Wirtschaftsverbindungen zum russischen Regime die Europäische Union und das transatlantische Verhältnis. Man sollte sich hier keine Illusionen machen: Wenn Deutschland jetzt nicht aussteigt, wird es noch einige Zeit von Russland abhängig bleiben. Und wenn Ukrainer*innen dies als Verrat empfinden, kann ich sie verstehen.

Ein Energieembargo gegen Russland würde Deutschland schwer treffen. Mehr als ein Drittel der Gasimporte wird derzeit in der Industrie verwendet, teils als Ausgangsstoff in der chemischen Industrie. Ein weiteres Drittel verbrauchen Haushalte, hauptsächlich zum Heizen. Diese Mengen sind kurzfristig nicht vollständig zu ersetzen. Man wird priorisieren müssen und wenn die Industrie bevorzugt beliefert wird, in den anderen Bereichen umso schärfer sparen. Das wird hart, vielleicht sehr hart.

Aber man wird sich fragen müssen, ob wir uns die Alternative leisten können – wirtschaftlich, geostrategisch, moralisch.

Das mildere Mittel

Warum ich (immer noch) für eine allgemeine Impfpflicht bin. Ein Debattenbeitrag.

Im Landesvorstand der GRÜNEN in Niedersachsen haben wir uns Anfang Dezember in einem Beschluss für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Ein Paradigmenwechsel. Als ich im Juli 2021 diese Position in anderen Zusammenhängen erstmals vertrat, war das Echo ablehnend. Die Fallzahlen waren auf einem Tiefststand, Impfstoff war ausreichend verfügbar und im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs war die Impfpflicht politisch ähnlich beliebt wie eine Mehrwertsteuererhöhung.

Ein halbes Jahr später stecken wir trotz leicht sinkender Fallzahlen mitten in der vierten Welle, Intensivstationen haben die Kapazitätsgrenze erreicht und vor der Tür steht Omikron. Kürzlich warnte der Expertenrat der Bundesregierung vor einer „ernsten Gefahr für die kritische Infrastruktur“ und forderte dringend Kontaktbeschränkungen. Die berufsbezogene Impfpflicht ist inzwischen beschlossen. Und wir werden auch erleben, dass die allgemeine Impfpflicht kommt. Wenn nicht jetzt, dann später, nach der fünften, sechsten Welle.

Weg aus der Pandemie

Eine allgemeine Impfpflicht wird früher oder später kommen, weil sie einer von zwei Wegen zurück in einen Zustand relativer Normalität ist. Der andere Weg, die kontrollierte oder unkontrollierte Durchseuchung, bedeutet den zusätzlichen Tod vieler tausend Menschen und kaum abzuschätzenden wirtschaftlichen Schaden. Der dritte Weg, der in der freiwilligen Impfung eines hinreichend großen Teils der Bevölkerung bestand, hat sich als nicht realistisch erwiesen.

Ich halte eine Impfpflicht aber auch deshalb für richtig, weil sie ein Stück kommunikative Ehrlichkeit bedeutet. Die Entscheidung über die Impfung ist nicht nur eine rein private, weil sie nicht nur das eigene Risiko betrifft. Jede Entscheidung für oder gegen die Impfung betrifft uns alle – weil sie die Pandemie verlängert, das Infektionsrisiko (trotz Impfung) erhöht und medizinische Ressourcen bindet. Diese Denkfigur zieht sich von Anfang an durch die Pandemie: Maskentragen und Kontaktbeschränkungen, um sich selbst und andere zu schützen. Auch hier haben wir es zuerst mit Freiwilligkeit versucht und dann – als Freiwilligkeit sich als unzureichend erwiesen hat – mit Pflicht und Kontrollen nachgesteuert. Und ich persönlich finde nicht, dass eine Impfung der schärfere Grundrechtseingriff ist im Vergleich dazu, dass das halbe Jahr über ein Großteil des öffentlichen Lebens verboten werden muss. Sie ist für mich das mildere Mittel.

Gefährliche Spaltung?

Es gibt im Wesentlichen zwei Argumente gegen eine Impfpflicht: Das erst Argument ist, dass eine Impfpflicht zur Spaltung der Gesellschaft führe. Ich halte es für ein hochproblematisches Argument. Es verschließt die Augen vor den Belastungen, die bereits jetzt für den gesellschaftlichen Zusammenhang bestehen. Indem der Staat gesagt hat, die Impfentscheidung sei Privatsache – moralisch falsch aber rechtlich legitim – privatisiert er auch den gesellschaftlichen Konflikt um die Impfung. In Familien und Freundeskreisen, am Eingang zu Läden und Kultureinrichtungen, in Zügen und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln findet täglich die Auseinandersetzung um Impfungen statt – wie zuvor schon um Masken- und Testpflichten. Kurz: Wer eine gesellschaftliche Spaltung befürchtet, macht es mit der bisherigen Politik nicht besser.

Das Spaltungs-Argument ist aber auch grundsätzlich problematisch, weil es – konsequent gedacht – zur Handlungsunfähigkeit demokratischer Systeme führt. Der Gedanke der ideologischen Einheit des Staatsvolkes jedenfalls ist Demokratien fremd. Hier wird diskutiert und gestritten und am Ende (mit Mehrheit) entschieden. Gerade die im Wortsinne „kritischen“ Fragen markieren die Grenze jener speziellen Form von Konsensdemokratie, auf die hin Deutschland strukturell angelegt ist und die in den letzten 16 Jahren tonangebend war. Wenn ein sachlich angemessener Kompromiss nicht möglich ist, muss eine sachlich angemessene Entscheidung mit Mehrheit gefällt werden.

Eine Frage der Umsetzung

Das zweite Argument gegen eine Impfpflicht ist, dass sie nicht umsetzbar sei. Hinter diesem Argument steht offenbar die Vorstellung, die Durchsetzung der Impfpflicht würde bedeuten, sich in den Einwohnermeldeämtern sämtliche Impfausweise vorzeigen zu lassen und bei Impfunwilligen die Polizei mit der Spritze in der Hand nach Hause zu schicken. Also ein bisschen wie bei der Wehrpflicht. Und in der Tat wird man sagen müssen, dass sich eine Impfpflicht auf diese Art und Weise kurzfristig nicht umsetzen ließe. Ich würde es so auch nicht wollen – Karlsruhe meiner Vermutung nach auch nicht.

Der jetzt ventilierte Gedanke eines nationalen Impfregisters hätte ähnlich Probleme. Wer sollte eine solche Datenbank aufbauen, nachhalten und durchsetzen? Hierfür hat der Bund derzeit nicht die Infrastruktur oder das Personal. Die Einwohnermeldedaten liegen bei den Kommunen, deren Gesundheitsämter – die so etwas theoretisch könnten – sind schon jetzt am Limit.

Das bedeutet aber nicht, dass eine Impfpflicht nicht auch ohne solche zentralstaatlichen Großprojekte umsetzbar wäre. Ich würde auf einen Dreiklang aus 1.) rechtlicher Klarheit, 2.) anlassbezogenen Kontrollen mit entsprechenden Bußgeldern und 3.) einer proaktiven Impfkampagne setzen.

Unter rechtlicher Klarheit verstehe ich nicht nur die Festlegung, wer sich bis wann wie zu impfen hat. Mein Ziel wäre, dass jene Menschen die Rechtsfolgen tragen, die dieser Pflicht nicht nachkommen und so fahrlässig zu einer Weiterverbreitung des Virus beitragen. Es geht mir insbesondere um Haftung, z.B. für Personenschäden. (Mir ist bewusst, dass die rechtlichen Details hier teilweise sehr kompliziert sind – das stört Regierungen aber sonst auch nicht.) Schon hierdurch kann sich die Anreizstruktur erheblich ändern.

Noch wichtiger wären mir breite aber anlassbezogene Kontrollen. Ich bin sehr skeptisch gegenüber einer abstrakten Kontrolle anhand eines Impfregisters – aber umso mehr überzeugt von verstärkten Kontrolle überall dort, wo Menschen in Kontakt gehen. Also beispielsweise stichprobenartig in Restaurants oder Kinos, in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei Gottesdiensten, bei Berufen mit viel Menschenkontakt, als Eingangsvoraussetzung in Bildungseinrichtungen (wie bei der Masernimpfpflicht) etc. Bußgelder würden verhängt, wenn Menschen ohne Impfstatus solche Orte besuchen. Es wäre keine grundlegende Neuerung gegenüber der 2G-Regelung, sondern eine rechtliche Weiterentwicklung und teilweise Rückverlagerung der Rechtsdurchsetzung von den Gewerbetreibenden auf den Staat. Solche Kontrollen und Bußgeldtatbestände wären skalierbar, um den organisatorischen Anforderungen an eine kontrollierende Infrastruktur – aber auch dem Gebot zur Wahl des jeweils mildesten Mittels – Rechnung zu tragen. Die Kontrollbereiche und ggf. bußgeldbewehrten Tatbestände könnten ggf. sukszessive ausgeweitet werden, um die notwendigen Impfquoten zu erreichen.

Und drittens müsste eine Impfpflicht natürlich begleitet werden von einer erneut intensivierten Impfkampagne. Insbesondere würde ich erwarten, dass alle Einwohnerinnen einmal angeschrieben und auf Impfangebote in ihrer Nähe hingewiesen werden. Es müsste mehrsprachige Informationsangebote geben und vertrauliche Beratungsangebote für Skeptikerinnen.

(Randbemerkung: Hierbei wird wieder einmal klar, dass erfolgreiche Pandemiebekämpfung nicht in Ministerien und Bundes- wie Landesbehörden geschieht, sondern vor Ort in den Kommunen. Wäre eine gute Gelegenheit mal über eine bessere Finanzausstattung der Städte, Gemeinden und Landkreise nachzudenken.)

Es muss keine sechste Welle geben

Natürlich ist auch mit solchen Maßnahmen kein schneller Ausweg aus der aktuellen pandemischen Lage von nationaler Tragweite (pun intended). Hier wird kurzfristig ein neuer Lockdown nicht zu vermeiden sein. Aber es muss keine fünfte und sechste Welle geben.

Wir haben es verkackt

EDIT: Ich hatte den Text zwischenzeitlich auf „privat“ gestellt, nachdem ich auf interne Aufarbeitungsprozesse hingewiesen wurde, die ich vorher noch nicht kannte. Nachdem jetzt teilweise Presse berichtet hat, habe ich ihn wieder online gestellt, damit Menschen nachlesen können, was ich wirklich gesagt habe.

Nach dem Wahlergebnis der GRÜNEN am Sonntag musste ich meinem Ärger mal Luft machen. Wenn die einen über Koalitionen spekulieren und andere wieder über die Kandidatin reden, finde ich: Wir müssen über diesen Wahlkampf sprechen.

Nach den Bundestagswahlen reden wir bei den GRÜNEN viel über Personen und Koalitionen. Wir sollten auch über Wahlkampf reden.

„Haben die GRÜNEN eine historische Chance verspielt?“ fragte der Moderator im SPIEGEL-Podcast „Stimmenfang“ von 23. September die eingeladene Expertin Melanie Amann. „Ich denk, ja. So einfach ist es“, antwortete diese sinngemäß.

Ich bin stinksauer. Mit 14,8 Prozent der Stimmen erzielten die GRÜNEN bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 zwar das beste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte, blieben aber deutlich hinter dem zurück, was möglich – und angesichts der historischen Herausforderungen v.a. des Klimawandels auch erforderlich – gewesen wäre. Denn im langfristigen Trend der Prognosen zwischen 2019 und 2021 bewegte die Partei sich im Korridor zwischen 20 und 25 Prozent. Teilweise als stärkste Kraft. Das war die Zielmarke. Wir müssen über den Wahlkampf reden – auch wenn sehr viele nun vor allem über Koalitionen reden wollen.

Nun weiß man es hinterher immer besser. Es ist sehr leicht, vom Spielfeldrand alles besser zu wissen. Aber vielleicht ist es diesem – um in der Fußballmetaphorik zu bleiben – Kreisklassentrainer ja erlaubt auszusprechen, was allen klar ist: Wir hatten es in der Hand und wir haben es – ganz nüchtern gesprochen – verkackt.

Die falsche Kandidatin?

Die naheliegende Erklärung, wir hätten schlicht die falsche Kandidatin nominiert, greift mir zu kurz – auch wenn eine junge Person ohne Exekutiverfahrung und mit Wahlerfolgen vor allem in der eigenen Partei eine sicherlich mutige Entscheidung war. Aber keine Mannschaft verliert nur wegen der Mittelstürmerin. In der Situation der Nominierung im April schien die Entscheidung jedenfalls nicht als Fehler und die sehr starke Leistung von Annalena Baerbock in den drei Triellen und anderen TV-Auftritten haben die Qualität der Kandidatin eindrucksvoll gezeigt.

Es ist heute unmöglich zu sagen, ob der Wahlkampf mit Robert Habeck als Kanzlerkandidaten grundlegend anders verlaufen wäre. Auch Robert macht Fehler, die ein politischer Gegner ausschlachten kann und bei denen man eine überzeugende Gegenstrategie hätte haben müssen (die wir nicht hatten). Und wenn man so weit in die hypothetischen Überlegungen geht, müsste man ja auch darüber nachdenken, ob man im grünen Selbstverständnis nicht konsequent auf diese Zuspitzung auf eine Person hätte verzichten müssen. Dann hätte man von der Dynamik und dem Zusammenspiel des Duos profitieren können – so überlegte nachdenkenswert der frühere CDU-Wahlkämpfer und Strategieberater Joachim Koschnicke im p&k Wahlcamp.

Was aber – glaube ich – gesagt werden muss: Für die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wäre ein deutlich besserer Wahlkampf möglich gewesen. Und auch einen Kandidaten Habeck hätten wir meiner Meinung nach mit hoher Wahrscheinlichkeit verschlissen. [EDIT] Es geht mir nicht um eine Kritik an Annalena Baerbock als Person oder als Wahlkämpferin. Es geht um die Kampagne. [/EDIT]

Unsere anfängliche Situationsbeschreibung war naiv

Der grundlegende Fehler dieses Wahlkampfs lag dem Augenschein nach schon in der anfänglichen Situationsanalyse. So beschrieb Ulrich Schulte in der taz vom 02. 09. 2021 am Rande in einem Satz, wie ich die Grundannahmen der grünen Kampagne wahrgenommen habe:

„Die Gesellschaft ist weiter, als die Große Koalition denkt, glaubt die Grünen-Spitze. Es brauche nur einen Stupser, dann beginne die ökosoziale Wende von selbst. Bereit, weil ihr es seid.“

Die gesellschaftliche Hegemonie als reife Frucht, die nur eines kleinen Stubsers bedarf, um in den geöffneten Mund grüner Parteistrategen zu fallen? Zumindest würde die Kampagne eine solche Wirklichkeitssicht nahelegen. Es ist ein ähnlicher Fehler in der Analyse, wie wir ihn in der Bundestagswahlkampagne 2013 (unvergessen die „Deutschland-Ist-Erneuerbar-Tour“) gemacht haben und wie er hinterher vom damaligen Spitzenkandidaten Jürgen Trittin klar analysiert wurde.

Die SPD wurde 2021 bereits am Boden gesehen – ihre Ablösung als Volkspartei der linken Mitte nicht als Ziel der Kampagne, sondern als deren Voraussetzung. Man setzte auf eine Zweikampfsituation mit der CDU, die wie von selbst dazu führen würde, die Stimmen des gemäßigt linken Lagers auf sich zu vereinen. Schließlich hatte man unter solchen Effekten selbst oft genug gelitten. Und hat es am Ende wieder.

Folge war dem Augenschein nach eine Kampagne, die ihre eigentliche kommunikative Aufgabe – die öffentliche Begründung des Machtanspruchs – dem Zeitgeist überlassen wollte. Bloß nicht polarisieren und damit Wähler*innen vergraulen. Wahlkampf im Instagram-Modus. Wesentlicher Teil davon war die mangelnde Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Weder hatten wir eine überzeugende Antwort auf die Angriffe gegen unsere Kanzlerkandidatin, noch eine eigene Angriffsstrategie. Anders ausgedrückt: Wenn man den expliziten Anspruch hat, die Union herauszufordern, sollte man nicht gleichzeitig Signale in die Richtung senden, am liebsten als Juniorpartner der Union in die Regierung einzusteigen.

Wir hatten keine überzeugende Wahlkampfstrategie

Der zweite größere Fehler gründete vielleicht in der umjubelten Kandidat*innenvorstellung im April 2021 – fünf Monate vor der Wahl. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste auch die Partei nicht, auf wen es hinauslaufen würde. (sic!) Der Zeitpunkt war zu spät, um die Kampagne organisatorisch und inhaltlich auf die Person an der Spitze zuzuschneiden. Um es klar zu sagen: Für die Kampagnenplanung ist eine solche Zeitplanung der reine Wahnsinn! (An dieser Stellen einen herzlichen Gruß an Martin Schulz und die SPD von vor vier Jahren.) Hinzu kam, dass augenscheinlich mit der Entscheidung nach außen die Führungsfrage nach innen nicht entschieden war. Stichwort: Teamlösung.

In der Folge hat die grüne Kampagne an keinem Punkt ein starkes Themen- und Kandidat*innenprofil jenseits des Klimathemas entwickelt. Die entscheidenden Fragen für eine Partei in der Herausforderer*innenposition haben wir nicht beantwortet: 1. Was läuft gerade falsch? 2. Wie muss es besser laufen? 3. Warum sind wir dafür die Richtigen? Und dabei ganz wichtig: Was hat das mit dir, liebe Wähler*in, zu tun? Nicht in den Printmaterialien, nicht in den Plakaten, nicht im Werbespot oder den Onlineanzeigen und leider auch nicht in Reden und Interviews.

Es mischten sich eine Annalena-Erzählung (Erneuerung), eine Robert-Erzählung (linker Patriotismus und Republikanismus) und das klassisch Grüne (für alles Gute und gegen das Böse). Eine solche Vielstimmigkeit, die parteiintern als etwas Gutes gesehen wird, bewirkt in der Außenkommunikation, dass keine der Botschaften durchdringt. Kaum erzählt wurde nach meiner Wahrnehmung übrigens der oben in der Analyse durchscheinende Narrativ vom Ergrünen der Gesellschaft – also dem Siegeszug grüner Themen in der viel zitierten gesellschaftlichen Mitte. Dies alles für spricht mangelnde Strategiefähigkeit. (Ebenso die mangelnde Fähigkeit, in der sich verschlechternden Situation vor der Wahl auf eine rot-grüne Koalitionsaussage zu setzen, um wenigstens das Abwandern taktischer Wähler*innen zur SPD zu verhindern.)

Zudem ist der Narrativ von Aufbruch und Erneuerung, der sich zunehmend als Kern der grünen Erzählung herausschälte, ein voraussetzungsreicher. Er setzt eine Unzufriedenheit der gesellschaftlichen Mehrheit mit dem Status Quo voraus. In einem Land, in dem die scheidende Bundeskanzlerin nach 16 Jahren Regierung Zustimmungswerte von 64 Prozent genießt, ist das eine durchaus… mutige Entscheidung. Und man muss sich fragen, ob diese Aufbruchserzählung zumindest handwerklich gut auserwählt (ausgewählt, auserwählt klingt in dem Kontext zu esoterisch) wurde. War der Wahlkampf einer, der von mutigen Ideen und kühnen Visionen lebte?

Wir haben stellenweise schlicht das Handwerk nicht beherrscht

Womit das Stichwort der handwerklichen Fehler gefallen wäre. Sie stellten nicht nur je für sich genommen ein Problem dar, sondern zusammengenommen den erklärten Anspruch der Kampagne (Wir sind bereit) fundamental in Frage.

Augenfällig sind die bekannten Stockfehler von Lebenslauf bis Buchprojekt, die vor allem davon künden, dass es der Annalena-Kampagne an Vorbereitungszeit mangelte und dass im entscheidenden Moment keine leistungsfähigen Strukturen aufgebaut waren, in die die Kandidatin Vertrauen gehabt hätte. Siehe oben zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung.

Auf der anderen Seite hat die Kampagne kaum daran gearbeitet, die Kandidatin als Führungspersönlichkeit zu profilieren. Wir haben erkennbar wenig dafür getan, Annalena als eine Person zu zeigen, die potenziell fähig sein kann, eine Regierung zu führen (Das Übliche: Bilder im Berater*innenkreis, Auslandsbesuche, betont staatstragende Wortbeiträge etc.) – und so die offensichtliche Schwäche der Kandidatin zu kompensieren. Hier fehlt es den GRÜNEN vielleicht an der Erfahrung mit Personenwahlkämpfen: Anstatt die Kandidatin zum Leuchten zu bringen und nach oben zu ziehen, hatte die Kampagne eher den Anspruch, die Kandidatin möge die Kampagne ziehen. Anstatt eine Kampagne von ihren objektiven Stärken und Schwächen her zu planen, wurde sie als Galionsfigur auf eine bestehende Kampagne gesetzt. So machen wir seit jeher Wahlkampf, wo wir sowieso keine Chance auf das Direktmandat oder das Bürgermeister*innenamt zu haben glauben.

Weniger geredet wird über eine schwache Plakatkampagne, die im Kern aus zehn sehr ähnlich aussehenden Themenplakaten mit Texten von hoher Allgemeinheit bestand. Eine politische Botschaft war der Plakatkampagne nicht zu entnehmen und der Kontrast zwischen weißer Schrift und hellem grün war so gering, dass die Plakate aus 50 Metern Entfernung nicht mehr zu lesen waren. Die anfänglich positiven Bewertungen der Plakatlinie haben mich schon damals sehr gewundert.

Zu reden wäre auch über das gedruckte Wahlkampfmaterial für den Einsatz an Ständen und im Haustürwahlkampf. Hier fehlte für mein Empfinden ein klares Konzept, welches Material für welchen konkreten Zweck im Wahlkampf konzipiert ist (mit Ausnahme des Haustürwahlkampfflyers). Ich meine: In welchem konkreten Szenario wird ein Material eingesetzt und welche Botschaft transportiert es? Und was waren eigentlich unsere drei inhaltlichen Kernforderungen, die jede*r am Ende benennen konnte?

Und da war ein erster Werbespot, der im positiven Sinne mutig war im Rückgriff auf nationales Liedgut und dem klaren Willen, Milieugrenzen zu sprengen. Ich mochte diesen Spot. Das Video wirkte aber nicht wie ein Teil der Gesamtkampagne, sondern stand für sich. Ein Entschlüsseln des anspielungsreichen Spots war weder von den Plakaten her möglich noch von den Reden der Kanzlerkandidatin her – sondern vielleicht am ehesten aus den Büchern von Robert Habeck und der Sozialtheorie von Armin Nassehi. Auch hatte der Inhalt des Spots nichts mit dem Wahlkampfclaim zu tun und stand mit diesem in keiner erkennbaren Beziehung. Zu dem Claim „Bereit, weil ihr es seid“ hätte man eine Geschichte von der Staatsparteiwerdung der Grünen und der Grünwerdung der Gesellschaft erzählen können. Auch diese Inkongruenz ist ein echter handwerklicher Fehler.

Was tun?

Wir sollten nicht auf den Gedanken kommen, auf Grund dieses Ergebnisses die Prozesse der thematischen Verbreiterung und der gesellschaftlichen Öffnung zurück abzuwickeln. Wenn nach der Flutkatastrophe in NRW das Klimathema nur für ein Ergebnis von knapp 15 Prozent gereicht hat, ist das der Korridor. Wer Mehrheiten für eine sozial-ökologische Politik gewinnen will, muss breiter ansetzen.

Aber die Kampagnenplanung für die nächste Bundestagswahl muss meiner Meinung nach deutlich früher und mit einer diesmal realistischen Bestandsaufnahme beginnen. Und wir müssen die Fähigkeit entwickeln, bundesweite Kampagnen von Personen her zu entwickeln und konsistent zu führen. Strategisch und strukturell. Dann kann es in vier Jahren anders ausgehen.

Und in der Zwischenzeit: Eine stabile Regierung bilden, gut regieren, das Klima (ein bisschen) retten. Nichts einfacher als das.