Genug!

Nach einem Jahr Improvisation sollten wir mal mit dem Krisenmanagement anfangen.

Eine Binnenlogik des Politischen führte die Regierenden Anfang März zu einer Lockerungsstrategie, die schon damals mit einem nüchternen Blick auf die Zahlen nicht mehr in Einklang zu bringen war. Nun wurde nach einer Marathon-Sitzung, in der sich die Ministerpräsidenten auf gar nichts einigen konnten, die Osterruhe als Minimalkompromiss beschlossen. Sie stellte sich gut einen Tag später als nicht umzusetzen heraus und wurde von der Kanzlerin unter viel „Asche-auf-mein-Haupt“ wieder kassiert. Von den Minimalbeschlüssen der MPK bleibt nach Rücknahme der „Osterruhe“ nur noch der fortgeschriebene Status-Quo, der erwiesenermaßen nicht ausreicht, um die dritte Welle aufzuhalten.

Die Dramatik der Abläufe entsteht auch dadurch, dass es weder eine funktionierende Strategie für den Einsatz von Schnelltests noch die dafür notwendige Logistik gibt, weswegen Jens Spahn und Andreas Scheuer (sic!) mit der Lösung dieses Problems betraut wurden. Was in Niedersachsen nach einem Jahr immer noch fehlt, ist ein halbwegs plausibles Konzept für einen pandemiegerechten Betrieb der öffentlichen Schulen und Betreuungseinrichtungen. Man hat sich auf die Rettung durch den Impfstoff verlassen – und vergessen, dass auch der Impfstoff nicht von selbst in die Oberarme kommt. (Von einheitlichen Standards für die Durchführung der Kontaktnachverfolgung und einer wirksamen Unterstützung kommunaler Gesundheitsämter durch das Land rede ich schon gar nicht mehr.) Und das alles nicht etwa, weil uns Wissenschaftler*innen nicht frühzeitig auf alle diese Probleme hingewiesen hätten. Im Gegenteil.

Nach einem Jahr „Fahren-auf-Sicht“ und zwei- bis vierwöchentlichem Reagieren auf die jeweils aktuelle Stimmungslage von Presse und Interessenverbänden offenbart die Pandemie die Handlungsunfähigkeit der Regierenden.

Die Systemlogik des Politischen

In der Ministerpräsidentenkonferenz regiert die Systemlogik des Politischen, die nicht fragt: „Wie kommen wir am besten durch die Pandemie?“ Es geht um Länderinteressen, um das Ansehen in der Öffentlichkeit, um wichtige Einflussgruppen und deren Anliegen. Diese etwas schmutzig wirkende Logik dient in unserem politischen System in „Friedenszeiten“ dem eminent wichtigen Ausgleich von Interessen. Sie schafft nicht immer optimale Lösungen, vermag aber als Prozess die Gesellschaft zu befrieden. In der Krise jedoch erweist sie sich als untauglich, weil das Virus kein Interesse innerhalb eines Gesamtkalküls darstellt, sondern eine unabänderliche Rahmenbedingung des Politischen.

Einen vergleichsweise guten Ruf genießt immer noch die Kanzlerin, weil sie – durchaus glaubwürdig – für einen Kurs der Vernunft wirbt. Es ist bezeichnend, dass es dafür derzeit ausreicht, dass sie mathematische Modelle ernst nimmt und dagegen ist, eine große Zahl von Menschen in der Wundflüssigkeit ihrer entzündeten Lungen ertrinken zu lassen. Sie könnte ein Bundesgesetz zur Pandemiebekämpfung durch das Kabinett und in den Bundestag einbringen und dort notfalls mit der Vertrauensfrage verbinden. Aber dazu scheint sie auch ein halbes Jahr vor dem definitiven Ende ihrer Kanzlerschaft nicht bereit zu sein. Auch sie unterliegt einer Logik des Machterhalts ohne zu fragen, wofür sie diese Macht eigentlich nutzen will.

Politik trotz ihrer Binnenlogik mit der Betrachtung der Wirklichkeit beginnen zu lassen, wäre die eigentliche Aufgabe demokratischer Führung. Poetischer: Es braucht die Leidenschaft und das Augenmaß, das Notwendige zu erkennen und dafür um Mehrheiten zu werben.

Ich bin für eine harten Shutdown

Der aktuelle Kurs der Regierung gefährdet Menschenleben. Und er nutzt nicht einmal denen, die jetzt von Lockerungen profitieren sollen – weder den Händler*innen, noch der Wirtschaft insgesamt und schon gar nicht der Kultur und den Familien. Denn Lockerungen zur falschen Zeit führen absehbar zu neuen Verschärfungen und im Hin und Her von Lockerungen und Verschärfungen dehnt sich die Zeit im Lockdown ins Unendliche.

Ich lege mich deshalb fest: Ich bin für einen harten Shutdown für mindestens zwei Wochen, wie ihn die deutsche Gesellschaft für Intensivmedizin jetzt fordert. Besser vier Wochen, um die Zahlen schnell nach unten zu bekommen. In der Zeit müssen wir das mit dem Testen und das mit dem Impfen und das mit dem Nachverfolgen endlich auf den Zacken kriegen. Dafür braucht es ein Gesetz – eigentlich auf Bundesebene – damit das gerichtsfester ist als diese komischen Verordnungen. Und dann können wir in einem Monat hoffentlich vorsichtig lockern.

Im Lockdown die Offenheit bewahren

Einige Gedanken zu den gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und zur politischen Aufgabe über die akute Nothilfe hinaus.

Corona ist die schwerste öffentliche Gesundheitskrise der vergangenen Jahre. Zugleich ist Corona eine wirtschaftlich und vor allem soziale Krise, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine harte Probe stellt. Viele Institutionen sind beeinträchtigt, die in normalen Zeiten eine offene Gesellschaft zusammen bringen: Dies beginnt bei den demokratischen Institutionen selbst, den Parlamenten und Parteien. Die Absage der großen Parteitage – auch der GRÜNEN in Niedersachsen – und die Ungewissheit, wie der innerparteiliche Willensbildungsprozess in den kommenden Monaten funktionieren wird, sind Beispiele. Noch dramatischer betroffen ist der zivilgesellschaftliche Teil unserer demokratischen Gesellschaft, die Basis des demokratischen Diskurses. Vereine und Gruppen, die ihre Treffen auf das Nötigste reduziert haben, Versammlungen, die nur noch unter Auflagen möglich sind, informelle Treffen in Cafés, auf Partys oder in Kneipen, die derzeit nicht mehr stattfinden können. Es fehlt die Plattform zum Austausch, um Gemeinsamkeit zu stiften, Kontakte zu schaffen, Vereinzelung zu überwinden und Vorurteile abzubauen.

Kulturschaffende, Gastronom*innen, Veranstaltungstechniker*innen, viele soloselbständige Trainer*innen und Dienstleister*innen, Studierende mit Nebenjobs, aber auch ganze Branchen wie Theater, Clubs, Sportstudios, Bars und Restaurants verlieren ihre wirtschaftliche Grundlage. Es vertiefen sich ökonomische Ungleichgewichte zu Lasten von Menschen, die schon außerhalb der Krise oftmals in wirtschaftlich prekären Verhältnissen arbeiten. Für sie existieren derzeit zu wenige maßgeschneiderte Hilfsangebote, weil viele bisherige Unterstützungen vom sogenannten Regelarbeitsverhältnis ausgehen, das aber längst nicht mehr die Regel ist.

Andere werden in der Pandemie besonders gefordert – allen zuvorderst natürlich die Beschäftigen des Gesundheitssystems, aber auch Erzieher*innen, Lehrer*innen, Polizist*innen – aber auch alle, die unter den erschwerten Bedingungen ihrer normalen Arbeit nachgehen, die die zusätzliche Belastung durch Homeoffice und eingeschränkte Kinderbetreuung tragen müssen. Es gibt gesellschaftliche Spätfolgen der Pandemie, die bereits jetzt absehbar sind, wie vor allem der emanzipatorische Rückschritt, dass Frauen im Lockdown wieder viel stärker in traditionelle Rollenbilder gedrängt werden, zusätzlich Care- und Familienarbeit übernehmen und dadurch die Errungenschaften vergangener Jahre verloren gehen.

All’ diese kleinen und großen, teilweise kaum zu verhindernden Ungerechtigkeiten setzen unsere Gesellschaft einem beträchtlichen Stress aus. Die Aufgabe der Politik in dieser Zeit ist zuvorderst der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung durch Maßnahmen, die insgesamt verhältnismäßig und rechtsstaatlich vertretbar sind. Es ist aber auch die Aufgabe von Politik, jenseits der wirtschaftlichen Entwicklung an das Überleben einer offenen Gesellschaft in einer vielleicht zweijährigen Zeit der Pandemie zu denken. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich bestehende Gräben vertiefen, dass die Akzeptanz schwindet und jene Oberwasser bekommen, die eine andere, weniger liberale Gesellschaft wollen. Wir müssen im Lockdown die Offenheit bewahren.

Kein Freibrief für die Exekutive – eine Perspektive für die Gesellschaft

Die Corona-Krise ist eine Zumutung für Demokrat*innen, weil sie die gewohnten demokratischen Abläufe und Rituale durcheinander wirbelt und teilweise unmöglich macht. Sie ist aber noch keine Krise der Demokratie. Das zeigt sich in der funktionierenden Kontrolle durch unabhängige Gerichte, in einer kritischen Presselandschaft und letztlich auch darin, dass die Parlamente deutlich und erfolgreich ihre Beteiligung einfordern.

Die Krise ist die Stunde der Exekutive – aber sie ist kein Freibrief. Eine parlamentarische Debatte und eine offene Kommunikation in der Öffentlichkeit zwingt die Regierung, die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Einzelnen nachvollziehbar zu begründen – und eine schlüssige Begründung ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass sie von Öffentlichkeit und Gerichten (!) als verhältnismäßig beurteilt werden. Neben einer nachvollziehbaren Begründung ihres Handelns gegenüber Parlament und Öffentlichkeit muss die Landesregierung den kommunalen Gesundheits- und Ordnungsämtern, der Polizei, den Schulen und Kindergärten klare Handreichungen für den Winter geben geben – zum Beispiel bei der Umsetzung der Quarantäneanordnungen und Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung oder für den sicheren Unterrichts im Winter. Denn auch eine einheitliche und nachvollziehbare Umsetzung der Maßnahmen ist wesentliche Voraussetzung für ihre Akzeptanz.

In der wirtschaftlichen und sozialen Krise müssen wir politisch jene in den Blick nehmen, die in dieser Situation besonders verwundbar sind. Dies wäre der Zeitpunkt, um endlich über eine bedarfsgerechte Finanzierung von Frauenhäusern zu sprechen. Dies wäre der Zeitpunkt, einen Umgang mit dem verlorenen Schuljahr 2020/21 zu finden, unter dem nicht die Kinder in bildungsfernen Elternhäusern besonders leiden. Dies wäre der Zeitpunkt, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem und in der Pflege zu verbessern und systematischen Fehlentwicklungen zu begegnen.

Zugleich haben wir einen dringenden Bedarf an neuen Formen des Diskurses und des Austausches in Politik und Gesellschaft und an Formaten, die entlasten, Gemeinschaft stiften und Zusammenhalt verbessern. Wir brauchen eine Perspektive für die Zivilgesellschaft. Dies wäre die Zeit, um vielen Kulturschaffenden und Kreativen, selbstständigen Kommunikationexpert*innen die Möglichkeit einzuladen an neuen Formaten des Austausches zu arbeiten, neue Formen der kulturellen Bereicherung unseres Alltages zu finden und Debattenräume zu eröffnen. Ich bin ausdrücklich dafür, dass wir ihnen ein Angebot jenseits von HartzIV machen – aber nicht als „bedingungsloses Einkommen“, sondern als öffentliches Stipendium. Wir könnten damit damit die kulturellen und kommunikativen Errungenschaften aus dem ersten Lockdown wiederbeleben – nur dieses mal mit einem fairen Lohn.

Und ja, um dies alles zu finanzieren, wird man nach der Krise über einen fairen Lastenausgleich sprechen müssen. So viel Mut muss sein.

Es gibt ein Führungsproblem

Mein Hot-Take zu NRW: Das jüngst aufgeflogene rechtsextreme Chat-Netzwerk in der Polizei ist auch Folge eines jahrelangen politischen Führungsversagens.

Rechtsextreme Netzwerke in der Polizei

In Nordrhein-Westfalen sind mehrere Chatgruppen innerhalb der Polizei aufgeflogen, in rechtsextreme Inhalte geteilt wurden. Es geht um 29 Polizisten, von denen 11 selbst solche Inhalte geteilt haben. Der Skandal wird dadurch noch größer, dass er durch Zufall aufgeflogen ist. In einem anderen Verfahren wegen Geheimnisverrats wurde das Handy eines Beteiligten beschlagnahmt. Es war nicht etwa so, dass einer der 18 „stummen“ Beteiligten an eine*n Vorgesetzte*n herangetreten wäre oder gar pflichtgemäß eine Anzeige geschrieben hätte.

Von Einzelfällen kann niemand mehr reden. Ähnliche Vorfälle hatte es bereits in Hessen, Baden-Württemberg und Bayern gegeben. Man muss in diesem Kontext auch daran erinnern, dass den rechtsextremen Drohmails, die mit NSU 2.0 unterschrieben waren, anscheinend Adressabfragen von Polizeicomputern vorausgingen. Am Ende steht ein erschreckendes Bild: Es gibt in der Polizei rechtsextreme Einstellungen, bei denen es sich um weit mehr handelt als um Einzelfälle. Niemand kann derzeit sagen, ob es „nur“ um eine Häufung von Einzelpersonen geht, um verfasste Netzwerke oder – unwahrscheinlich – um organisierte Strukturen.

Selbstverständlich braucht es jetzt eine vollständige und rückhaltlose Aufklärung – einschließlich eines wissenschaftlichen Lagebildes über das gesamte Ausmaß des Problems „Rassismus“ in der Polizei. Aber zum jetzigen Punkt muss man auch fragen: Was ist eigentlich jahrelang schief gelaufen?

Führungsversagen: Der Fisch stinkt vom Kopf

Bei rassistischen Vorfällen waren die Rezepte der letzten Jahrzehnt immer: Mehr politische Bildung, mehr interkulturelle Schulungen und mehr Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund. Das ist ausdrücklich zu begrüßen! Mit diesen Maßnahmen rechtsextreme Weltbilder aufzulösen oder demokratieverachtende Strukturen zu zerschlagen, ist aber eine naive Hoffnung.

Eine Haltung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Courage müsste zuallererst in der in der politischen Spitze vorgelebt werden. Und gerade hier gibt es seit Jahr und Tag ein eklatantes Führungsversagen. Die Stellungnahme des NRW-Innenministers Reul auf tagesschau.de ist so ehrlich wie vielsagend: „Ich habe zunächst nicht glauben wollen, dass es sowas gibt.“ Man stelle sich vor, er wäre nicht mit unumstößlichen Sachbeweisen konfrontiert worden, sondern nur mit der Aussage einer Polizistin, die von ihren Vorgesetzten als Querulantin betrachtet wird. Wäre Reul ihr nachgegangen?

Vor allem Unions-Innenminister (aber nicht nur sie) betrachten rechtsstaatliches Vorgehen und couragierte Haltung bei Polizist*innen als etwas Selbstverständliches. Und auch wenn sie bei der überwältigenden Mehrzahl der Beamt*innen sicher vorhanden sind: Selbstverständlich sind sie keineswegs. Es ist leicht zu verstehen, dass Polizist*innen von den vielen Einschränkungen des liberalen Rechtsstaats auf Dauer frustriert sein können – zumal wenn Überlastung, mangelhafte Ausrüstung und Kritik von außen hinzukommen. Und es ist noch leichter zu verstehen, dass die Courage zur notwendigen Anzeige gegen eine*n straffällige*n Kolleg*in nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Polizist*innen haben einen extrem fordernden Arbeitsalltag, sind in einzigartigerweise mit den sozialen Problemen der Gesellschaft konfrontiert oder geraten häufig in Konfliktsituationen, in denen sie selbst von einer neutralen Partei zum Ziel der Aggression werden können. Es wäre ein Wunder, wenn es hier keine Phänomene aus der Kategorie Freund-Feind-Denken gäbe. Eigentlich wäre also ein offener und ehrlicher Umgang mit dem Thema, Transparenz und Fehlerkultur angesagt.

Unvergessen ist aber die Begründung des Bundesinnenministers, warum es keine Studie zu Racial Profiling brauche: Es sei schließlich verboten, komme also nicht vor. (Ähnlich auch Reul.) Man denke auch – in einem zugegeben anderen Zusammenhang – an Olaf „Polizeigewalt hat es [bei G20] nicht gegeben“ Scholz. Solche Haltungen wie sind nicht nur unverschämt gegenüber Betroffenen, sie sind wesentlicher Teil des Problems. Warum sollten unmittelbare Vorgesetzte oder Kolleg*innen irgend gegen Entgleisungen tun, wenn nicht einmal die politische Spitze willens ist, zu sehen und einzuschreiten?

Der Fokus etwa der Strafverfolgung ist oft die sichtbare Kleinkriminalität auf den Straßen – im Extremfall zur „Klankriminalität“ hochstilisiert, die von den Fallzahlen her allenfalls eine Randnotiz ist. Lässt sich halt in den Medien besser verkaufen als langwierige Ermittlungen in Wirtschaftsstrafsachen, die von der Schadenssumme her ein Vielfaches umfassen. Zu doof, dass Kleinkriminelle oft „ausländisch klingende Nachnamen“ haben.

Ohne einen Kulturwechsel vor allem in der (politischen) Polizeiführung bleiben darum alle Einzelmaßnahmen, die jetzt vielleicht ergriffen werden, trauriges Stückwerk. Eine Garantie für einen Kulturwandel in der gesamt Organisation ist das natürlich nicht – aber eine notwendige Voraussetzung. Dies ist für mich ein Grund, warum auch GRÜNE anfangen sollten, Innenministerien zu führen. Sie müssen zeigen, wie es anders gehen kann.

Eine andere Innenpolitik

Zunächst das Naheliegende: Innenpolitik muss strukturelle Probleme in der Polizei analysieren und bekämpfen – zu allererst die chronische Überlastung vieler Beamt*innen. Und da dem Einstellen zusätzlicher Kräfte naturgemäß Grenzen gesetzt sind – Stichworte Haushaltsdisziplin und fehlende Bewerber*innen -, muss man auch überlegen, was in Zukunft vielleicht weniger oder anders getan werden kann. Strukturelle Fragen wären auch, ob man nicht z.B. durch Rotationsregelungen verhindern muss, dass dieselben Beamt*innen jahrelang in denselben Kriminalitätsschwerpunkten Dienst tun müssen, wie das wohl in Frankfurt der Fall war. Hier gibt es sicher bereits lange Listen.

Ein Kulturwechsel in der Polizeiführung müsste aber weiter gehen. Es wäre zu wünschen, dass Innenminister*innen den liberalen Rechtsstaat nicht nur als lästiges Hindernis betrachten. Konkret hieße das zum Beispiel, nicht mit jeder Neuauflage des Polizeigesetzes und anderer Sicherheitsgesetze bis an die Schmerzgrenze der Verfassungsgerichte die Grenzen des Rechtsstaatlichkeit maximal auszudehnen. Man kann durchaus – wenn man nachvollziehbar der Ansicht ist, eine Fähigkeit zur Online-Durchsuchung zu brauchen – einen Richtervorbehalt und die Beschränkung auf schwere Straftaten in den Gesetzesentwurf schreiben. Wirklich, das geht.

Die Polizei ist eben nicht „Kriegspartei“ in einem täglichen Kampf um die Hoheit auf unseren Straßen. Ihr Aufgabe ist der Schutz des Rechts und der Schutz der Rechte aller Einwohner*innen. Diese Haltung zu transportieren – auch wenn man dann nicht als „harter Hund“ Punkte bei der BILD-Zeitung machen kann – wäre zuvorderst Aufgabe der Minister*innen.

Und gerade den Beamt*innen, die sich innerhalb der Polizei für gegen rechtsextreme Tendenzen engagieren, schuldet ein*e Innenminister*in, selbst nicht wegzusehen – auch ohne einen Medienskandal im Nacken. Solchen Polizist*innen kann durch Strukturen der Rücken gestärkt werden, die außerhalb der Hierarchie stehen und zur Not auch anonym ansprechbar sind – beispielsweise ein*e parlamentarische*r Polizeibeauftragte*r. Aber nur die Vorgesetzten vom MI abwärts können disziplinarisch gegen Übertretungen vorgehen – und müssen es auch tun, bevor es einen Medienskandal gibt. Es liegt an ihnen.

Teil 3 – Auf der Suche nach der politischen Botschaft

Ich hatte das große Glück, von Juni bis November 2019 den Wahlkampf von Belit Onay in Hannover leiten zu dürfen. Dieser Text ist der dritte Teil einer kleinen Serie über diesen Wahlkampf und berichtet von der nicht ganz einfachen Suche nach der Kernbotschaft. Dabei habe ich mich aus Gründen der Lesbarkeit nicht immer strikt an die historische Reihenfolge gehalten…

Horror Vacui

Am Anfang lag auf meinem Schreibtisch ein leeres, leicht gräuliches Blatt Recyclingpapier. Darauf kritzelte ich mit einem Kugelschreiber ein Dreieck. An die Ecken schrieb ich: Belit Onay, Hannover, GRÜNE. Im Verlauf der kommenden Tage kamen viele weitere Begriffe auf dem Blatt dazu, auf dem sich auch immer mehr Kaffeeflecken und mühsam geglättete Falten sammelten. Doch die Mitte des Dreiecks blieb leer. Es fehlte das richtige Wort.

Wahlkämpfe sind keine Werbekampagnen

Mein Denkmodell für die inhaltliche Wahlkampfplanung ist recht einfach: Wahlkampagnen sind Akte öffentlicher Kommunikation, die die Frage beantworten müssen: „Warum soll ich dich wählen?“ Sie unterscheiden sich insbesondere von Werbekampagnen, weil bei Wahlen über die Richtung abgestimmt wird, die eine ganze Stadt oder ein Land einschlägt. Deshalb müssen Wahlkampagnen Überzeugungen schaffen und nicht nur ein Kaufverlangen erzeugen.

Die politische Botschaft einer Wahlkampagne ist zusammenfassend und zuspitzend ihre Antwort auf die Frage „Warum soll ich dich wählen?“ – die Richtung, für die einE KandidatIn oder eine Partei antritt. Sie ermöglicht damit die Wahlentscheidung als Richtungsentscheidung. Legendär ist das Wahlplakat Konrad Adenauers „Keine Experimente!“ – gut finde ich zum Beispiel auch Gerhard Schröder (2002) „Der Kanzler der Mitte.“ oder die GRÜNEN in Bayern (2018) „Mut geben statt Angst machen“. In diesen Fällen drücken die Wahlplakate den Kerngedanken der Kampagnenbotschaft aus.

Bei Kommunalwahlen ist diese Aufgabe besonders schwer. Ich erinnere mich noch an das Großflächenplakat der CDU: „5 Kinder. 4 Enkel. 1 Plan.“ Auf anderen Plakaten war zu lesen: „Stadt für alle statt für wenige!“, „Endlich sicher, sauber und sozial!“ und „Frische Luft für Hannover!“ Die SPD plakatierte: „Hannover. Besser. Machen.“ sowie „Hannover. Kindgerechter. Machen.“, „Hannover. Bezahlbarer. Machen.“ und „Hannover. Klimafreundlicher. Machen.“ Im Übrigen waren beide Plakatlinien klassisch gestaltet: Das Kandidatenportrait war freundlich lächelnd auf einen Hintergrund montiert, dazu einige weitere Bildelemente und zu viel Text.

Was beiden Plakatlinien aus meiner Sicht fehlte, war eine klare politische Botschaft. Für welche Werte standen die Kandidaten von SPD und CDU? Für welche Richtung der Politik kämpften sie? Was war die Idee für Hannover, die die politischen Einzelvorschläge zusammenhält? Neustart wohin? Besser inwiefern? Bezahlbarer wie? (Und seit wann existiert zu „bezahlbar“ eine Steigerungsform?) Für mich wurden diese Fragen im weiteren Verlauf des Wahlkampf nicht beantwortet.

Auch wir taten uns schwer.

Mehr als die Suche nach dem richtigen Wort

Wir hatte zu einem frühen Zeitpunkt in der Kampagne ein Beratungsgremium eingerichtet, in dem wir grundsätzliche strategische Fragen zu Positionierung und Thematik besprechen wollten. Es waren Menschen mit politischer Erfahrung dabei, die die Stadt gut kennen, darunter auch zwei frühere OB-KandidatInnen.

Was uns fehlte, war das Wort in der Mitte des Dreiecks: der eine Begriff, der zu unserem Kandidaten, zu unserer Partei und zur Situation in Hannover passt, die Zusammenfassung unserer politischen Botschaft in einem Wort.

Als wir uns trafen, bestand Einigkeit: Hannover ist eine im Kern sozialdemokratisch denkende Stadt, die aber nach 70 Jahren ununterbrochener Herrschaft, einer Rathausaffäre und vielen aufgelaufenen Problemen der SPD überdrüssig war. Aber einen völligen Politikwechsel wollte nach unserer Einschätzung die Mehrheit der HannoveranerInnen nicht. Wir hätten einen Kursänderung um 180 Grad nach 30 Jahren grüner Regierungsbeteiligung nicht glaubhaft vertreten können und wollen. Wie also die latente Wechselstimmung nutzen?

Wir GRÜNE hatten bundesweit gerade einen Lauf. Den Parteivorsitzenden wurde bis zum Kanzleramt alles zugetraut und es gab viel frischen Rückenwind. Unser Kandidat brachte neben großem persönlichen Charisma seine Geschichte mit, die ihn vom Gastarbeiterkind und sprichwörtlichen Tellerwäscher zum Landtagsabgeordneten geführt hatte. Doch es mangelte ihm an der beruflichen Führungserfahrung, die ihn zur „natürlichen“ Alternative zum SPD-Kandidaten gemacht hätte. „Keine Experimente!“ schied als Wahlkampfslogan jedenfalls aus.

Aber welcher Begriff funktionierte? Mit dem Vorschlag „Neuanfang“ blitzte ich zum Glück eiskalt ab. Es wäre keine überzeugende Antwort auf die Frage „Warum soll ich dich wählen?“ gewesen. Neuanfang wohin und wozu? Wollen wir auch das über Bord werfen, was wir in den letzten Jahren schon erreicht hatten? Und wo bleibt unser grüner programmatischer Anspruch? Darauf hatte ich keine Antwort. Recht niedergeschlagen kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück.

Zurück ans Zeichenbrett

In den folgenden Tagen las ich viele Zeitungsartikel und Verwaltungsdokumente und erarbeitete ich mir folgende Analyse:

Die SPD hatte in Hannover schon in den Jahren unter Stephan Weil eine relativ progressive, grünen-nahe Rhetorik und Programmatik. Doch es klaffte eine große Lücke zwischen den PR-Terminen und der tatsächlichen Politik. So gab es umfängliche Verfahren zur BürgerInnenbeteiligung, die aber oft wenig Einfluss auf das Verwaltungshandeln hatten. So hab es einen Masterplan Verkehrsentwicklung, der im Inhaltsverzeichnis und in den strategischen Zielen den öffentlichen Nahverkehr und das Fahrrad in den Vordergrund schob – relativ versteckt bei den Maßnahmen aber eine Bestandsgarantie für die autogerechte Stadt enthielt. So gab es eine ausgeprägte soziale Rhetorik, zu der eine dem Anschein nach bewusst abschreckende Gestaltung der Obdachlosenunterkünfte in Widerspruch stand. Und so weiter. Den Grund dafür vermutete ich darin, dass jede echte Veränderung den Machterhalt gefährdet hätte. Doch mit den Jahren merken Menschen, wenn echte Probleme nur scheinbar angepackt werden. Und die Probleme bei der Verwaltungsführung ließen sich spätestens mit der „Rathausaffäre“ nicht mehr verbergen.

Den zweiten, wichtigeren Teil der Analyse verdanke ich eigentlich Inga und einer Kaffeepause. Inga arbeitet im Wahlkreisbüro des grünen Bundestagsabgeordneten und kommt ursprünglich aus dem Kulturmanagement. Wir unterhielten uns über das besondere Profil von Belit: den gewissen Coolness-Faktor, der anderen Politikerinnen und Politikern meist fehlt; den sogenannten Migrationshintergrund und was es für Hannover bedeuten könnte, jemanden mit einer solchen Geschichte zum Oberbürgermeister zu wählen. Ich schilderte ihr einen Eindruck: Hannover hat ein durchaus gespaltenes Selbstbild. Einerseits ist sie stolz auf die eigene Beschaulichkeit, die hohe Lebensqualität und das größte Schützenfest der Welt. Andererseits will die Landeshauptstadt nicht nur kulturell im Konzert der großen Städte mitspielen. Dieses Weltstädtische zu verkörpern, trauten wir in Hannover weder CDU noch SPD zu.

So schälte sich allmählich eine Strategie heraus: In Stil und Auftreten würde Belit für eine moderne, weltoffene und – ja – coole Großstadt Hannover stehen. Belit Onay packt an, worüber die SPD jahrelang nur redete. Wo Stefan Schostock zunehmend aus Angst und politischer Schwäche Entscheidungen gemieden hat, vermittelt Belit eine Stimmung des „Wir schaffen das“. Das Beste: Dafür musste er sich nicht einmal verbiegen.

Un irgendwann platzte der Knoten. Ich glaube mich zu erinnern, dass ein hörbares Aufatmen durch das Beratungsgremium ging, als ich bei unserem nächsten Treffen einen neuen Begriff in die Runde warf:

Wir wollten zusammen mit Hannover einen Aufbruch wagen.