Auf der Suche nach Lösungen

Die neue Rolle der GRÜNEN im Parteiensystems

Ich beschäftige mich mit dem aktuellen Höhenflug der GRÜNEN und denke darüber nach, welche veränderte Rolle auf die Partei zukommt. Der Text soll auch ein kleiner Beitrag zur Debatte im Vorfeld der Landesdelegiertenkonferenz der Niedersächsischen GRÜNEN in Celle (27.-28.10.18)sein. Der Text ist in relativ kurzer Zeit entstanden – daher der etwas essayistische Stil.

1. Im Herzen der Gesellschaft angekommen

Siebzehnkommafünf Prozent bei den Landtagswahlen in Bayern. Zweiundzwanzig Prozent in manchen Umfragen zur hessischen Landtagswahl. Zweitstärkste Kraft mit um die zwanzig Prozent bei Umfragen im Bund. Siebenundvierzig Prozent der Wählerinnen und Wähler, die sich vorstellen können, die GRÜNEN zu wählen, meldet der SPIEGEL. Beteiligt an neun Landesregierungen in unterschiedlichsten Koalitionsmodellen. Hohe Zustimmungswerte zu GRÜNEN Positionen bei Landwirtschaft und Verbraucherschutz, dem Umgang mit dem Diesel-Skandal (!), bei Emanzipation und Gleichstellung, bei der Notwendigkeit sozialen Ausgleichs und so weiter und so weiter, melden die verschiedensten Umfragen.

Es lässt sich nicht leugnen, dass sich die politische Rolle der GRÜNEN seit dem Ende der rot-grünen Bundesregierung 2005 erheblich verändert hat. Die Koch-Kellner-Metapher eines Gerhard Schröder 1998 ist nur noch eine dunkle Erinnerung. Inzwischen sind die GRÜNEN rein faktisch eine eigenständige Kraft, die Regierungsverantwortung in verschiedenen Konstellationen übernimmt – und damit keineswegs schlecht fährt.

Ebenso interessant sind die Umfragen, die belegen, dass GRÜNE Ideale – von der Nachhaltigkeit bis zur vollen Gleichstellung Homosexueller – inzwischen gesellschaftlicher Mainstream sind. Die Zustimmung ist zwar oftmals abstrakt und verschwindet gelegentlich, wenn die Windräder in der Nähe des eigenen Hauses gebaut werden sollen. Trotzdem ist sie da.

Die GRÜNEN sind einmal als Protestpartei gestartet, die gegen breite gesellschaftliche Mehrheiten notwendige Veränderungen politisch durchkämpfen wollten – und durchgekämpft haben. Heute werden viele GRÜNE Ideale von breiten Mehrheiten geteilt. Die neuen gesellschaftlichen Bewegungen, aus denen die Partei hervorgegangen ist, sind im Herzen der Gesellschaft angekommen – und mit ihnen die GRÜNEN.

2. Das Ende des Modells „Volkspartei“

Zugleich ist die Rede von einer neuen GRÜNEN Volkspartei ziemlicher Unsinn – außer vielleicht in Baden-Württemberg. Zwanzig Prozent reichen schon allein numerisch nicht für dieses Prädikat. Vor allem aber ist das politische Modell „Volkspartei“ für die GRÜNEN insgesamt eher ungeeignet – und es ist ein Modell mit rapide schwindender Bedeutung.

Der Niedergang der SPD, die in aktuellen Umfragen nur noch noch viertstärkste Partei im Bund ist, sowie der CDU, die zum Ende der Ära Merkel zunehmend ihre Hegemoniefähigkeit verliert, sind teilweise bedingt durch eigenes Fehlverhalten – Stichwort Causa Maaßen. Es ist aber augenscheinlich, dass es tieferliegende gesellschaftliche Ursachen gibt.

Das Modell „Volkspartei“ hat seine Wurzeln in einer relativ homogenen Nachkriegsgesellschaft, in der es möglich war, breite gesellschaftliche Strömungen anhand zweier dominierender Erzählungen zu sammeln: Einer konservativ-christlichen und einer progressiv-sozialdemokratischen. Die großen gesellschaftlichen Widersprüche ließen sich ebenfalls anhand dieser Narrative ausbuchstabieren: Westbindung und neue Ostpolitik, Wirtschaftswunder und beginnende Massenarbeitslosigkeit und dahinter – nicht zuletzt – der gute alte „Hauptwiderspruch“ zwischen arbeitender und besitzender Klasse. Die Leistung der Volksparteien bestand darin, diese politischen Konflikte zu kanalisieren und zu zivilisieren.

Die Methode zur Bindung gesellschaftlicher Konflikte bestand auch darin, die Konflikte innerhalb des eigenen Elektorats weitgehend abzumoderieren und in den Schatten der übergreifenden Konflikte zu stellen. Schon die Mischung der CDU aus konservativ, wirtschaftsliberal und christlich-sozial passt nicht ohne erhebliche Spannungen zusammen. Auch innerhalb der SPD existieren ähnliche Konflikte zwischen klassischer (Industrie-)ArbeiterInnenschaft, prekarisierten/marginalisierten Gruppen und einer emanzipatorischen Avantgarde. Der Begriff „Volkspartei“ suggeriert eine Homogenität, die es zunehmend weniger gibt. Das Konsensmodell der Volksparteien ist eine Mischung aus „kleinstem gemeinsamen Nenner“ und dem „äußeren Gegner“. Angela Merkel war die letzte Großmeisterin dieses Konsensmodells, ihr „äußerer Gegner“ die unsichere Welt der Globalisierung.

Die Krise der Volksparteien lässt sich sehr gut damit erklären, dass dieses Modell nicht mehr funktioniert. Einerseits fehlen die großen politischen Konfrontationen der Nachkriegszeit. Sie wurden ersetzt durch den neuen (Vielleicht: „Haupt-„) „Widerspruch“ zwischen den VerteidigerInnen der offenen Gesellschaft und ihren FeindInnen, bei dem die Konfliktlinien mitten durch die „Volksparteien“ verlaufen. Im Fall von Angela Merkel bedeutete das, dass zuerst in der Banken und zuletzt in der Flucht-Krise deutlich wurde, wie zerbrechliche ihre Erzählung ist, das Land vor den Stürmen der internationalen Entwicklungen schützen zu können.

Zugleich hat sich die Zahl der gesellschaftlichen Konflikte vervielfacht und sind die Konfliktlinien zunehmend unübersichtlich geworden. Konflikte bestehen heute nicht nur zwischen Besitzenden und Arbeitenden. Sie bestehen auch zwischen etablierten Industrieunternehmen und jungen Start-Ups, zwischen FacharbeiterInnen der Stammbelegschaft, LeiharbeiterInnen und Freiberuflichen, zwischen Arbeitenden in der Industrie und DienstleisterInnen. Konflikte bestehen zwischen Stadtbevölkerung und Landbevölkerung – genauer zwischen Stadtbevölkerung, Vorstadtbevölkerung und Landbevölkerung, was in der Mobilitätsfrage besonders deutlich wird. Konflikte bestehen zwischen dieser und kommenden Generationen – Stichwort Rente und Ökologie. Konflikte bestehen zwischen gut Ausgebildeten, im internationalen Wettbewerb Konkurrenzfähigen, und weniger gut Ausgebildeten. Konflikte bestehen zwischen einer digitalen Avantgarde und jenen, deren ökonomische und soziale Existenz durch die Digitalisierung in Frage gestellt wird. Sie bestehen zwischen jenen, die mit allen Möglichkeiten und Chancen zur Welt gekommen sind und jenen, die nur Schulden geerbt haben. Konflikte bestehen leider immer noch zwischen den Geschlechtern. Zwischen Zugewanderten und Alteingesessenen. Und so weiter. Und so weiter.

Und das Entscheidende: Diese Konflikte und objektiven Probleme lassen sich nicht auf dem alten Weg über Formelkompromisse und eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners befrieden. Dafür sind sie zu vielfältig und gleichzeitig zu tiefgreifend.

3. Die Neue Rolle der GRÜNEN – Veränderungswillen und Kompromissfähigkeit

Was ist in dieser neuen gesellschaftlichen Situation die Rolle der GRÜNEN? Genauer: Was könnte sie sein? Denn noch sind die Umfragewerte und Wahlergebnisse für die Partei vor allem Hoffnungswerte.

Die GRÜNEN sind eine widersprüchliche Partei, selbst ein Kind der neuen Wirklichkeit. Sie sind das Produkt vieler gesellschaftlicher Bewegungen: Ökologiebewegung, Friedensbewegung, Frauenbewegung, „neue Linke“ etc. Die Stärke der GRÜNEN besteht seit jeher darin, dass sie durch ihre Wurzeln in den sozialen Bewegungen bestehende Konflikte und Probleme in aller Schärfe benennen können. Sie haben weniger den Hang zum Aussitzen, Abmoderieren und Verschweigen, der die Politik von SPD und CDU stellenweise kennzeichnet. Die Fähigkeit zum Zuspitzen und zum Konflikt ist in dieser Situation eine Stärke der GRÜNEN.

Zugleich haben sie sich in Jahren der innerparteilichen Konflikte auch eine Fähigkeit erarbeitet, die mindestens ebenso wichtig ist. Diese Fähigkeit wird deutlich, wenn man das harte Ringen der Jamaika-Verhandlungen mit vielen schmerzhaften aber inhaltlich tragfähigen (!) Kompromissen betrachtet. Es ist richtig, dass viele Menschen die ewige Friedhofsruhe in der Politik satt haben. Ein Streit um des Kaisers Bart ohne Ziel und Ergebnis, Konflikt um des Konfliktes Willen, eine Politik des Nullsummenspiels wird allerdings ebenso wenig honoriert. Zu benennen, was falsch läuft, ohne eine Idee davon zu entwickeln, wie es besser laufen könnte, ist der Weg einer Protestpartei. Die Kunst besteht vielmehr darin, ernsthaft in der Sache zu ringen und zu allseitig tragfähigen Lösungen zu kommen. Ein gutes Beispiel dafür war das grüne Auftreten bei den Jamaika-Sondierungen – oder in der Landesregierung in Schleswig-Holstein.

Das Angebot der GRÜNEN könnte darin bestehen, die tatsächlichen gesellschaftlichen Konflikte ernsthaft zu bearbeiten und an der Sache orientierte, faire und tragfähige Lösungen zu suchen. Das wird niemals für vierzig Prozent reichen. Zum Glück nicht. Aber es könnte dazu beitragen, das politische System zu stabilisieren und in Zeiten einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft arbeitsfähig zu halten.

Gedanken zur Wahl: Die CDU in der Zwickmühle

Wahlanalysen sind eine heikle Sache, Analysen die auf den Erhebungen von Infratest dimap zu Wanderungsbewegungen beruhen umzumal. Sie beruhen auf den Nachwahlbefragungen und damit auf dem sehr lückenhaften Gedächtnis der Befragten. Andererseits bieten sie aufschlussreiche Anhaltspunkte, wo die einzelnen Parteien nach der Wahl stehen.

Zum Beispiel die Union: Nach den dramatischen Verlusten bei der Bundestagswahl am 24.9.2017 blinken Teile der Union scharf rechts. Vor allem die bayrische Schwesterpartei will „die rechte Flanke schließen“, um „an die AFD verlorene Wähler zurückzugewinnen“. Ein zweiter Blick legt dagegen nahe, dass an dem eingeschlagenen Kurs der gesellschaftlichen Modernisierung für die CDU kaum ein Weg vorbeiführt.

(Ich beziehe mich im Folgenden im Wesentlichen auf die Analysegrafiken von Zeit-Online)

Wo hat die CDU verloren?

Die meisten Federn gelassen haben die Konservativen im letzten Wahlkampf nicht in Richtung der AFD sondern in Richtung der FDP. Viel deutet darauf hin, dass schon die relative Stärke der CDU 2013 einiges mit der damaligen Krise der FDP zu tun hatte. Im vergangenen Wahlkampf hat sich die FDP erholt – mit einer deutlich modernisierten Formsprache und einer Mischung als National- und Wirtschaftsliberalismus. Ihr ist es gelungen, einen optimistischen, zukunftsoffenen Geist zu kommunizieren und jene zu erreichen, die dem „Keine Experimente“-Wahlkampf der CDU nicht viel abgewinnen konnten. Die Person der Kanzlerin hat an Strahlkraft verloren und die CDU hatte wenig alternative Erzählung anzubieten als die „Wir-sind-die-Angela-Merkel-Partei“.

Ein weiteres großes Problem der CDU ist das Alter ihres Elektorats. Ein großer Teil der CDU-Verluste ist dadurch erklärlich, dass ältere CDU-WählerInnen gestorben sind. Nur in deutlich bescheidenerem Umfang ist es der CDU gelungen, ErstwählerInnen zu gewinnen. Insbesondere der Generalsekretär Peter Tauber versucht, diesem Problem mit medialer Modernität (YouTube-Interviews, junge Vorzeige-Konservative) zu begegnen. Hier scheinen aber Form und (politischer) Inhalt so weit auseinander geklafft zu haben, dass die technischen Innovationen verpufft sind.

Wo liegen Potenziale?

Die Fluktuation von der AFD zurück zur CDU ist minimal. Der Versuch zur aktiven Rückgewinnung der zur AFD Abgewanderten dürfte insgesamt zum Scheitern verurteilt sein. Wie es auch der SPD nicht gelungen ist, in relevantem Ausmaß WählerInnen von der LINKEN zurückgewinnen, dürfte sich die CDU schwer tun. Einmal zerstörtes Vertrauen in die Bewahrung kleinbürgerlicher Idyll ist nur sehr schwer zurückzugewinnen – und ein Umschwenken auf einen gänzlich antimodernen Kurs bei der CDU auch nicht vorzustellen. Diese Tür hat bereits Adenauer mit Westbindung und europäischer Integration zugeschlagen. Schwer dürfte auch wiegen, dass sich die zur AFD abgewanderten damit in die Systemopposition gegen die liberale Demokratie begeben haben – und gegen die etablierten Parteien, die sie tragen. Der Markenkern der CDU ist es aber gerade, DIE etablierte, staatstragende Partei zu sein. Diese Kluft dürfte schwer zu überwinden sein.

Bei recht hoher Fluktuation unter dem Strich leicht hinzugewonnen hat die CDU – trotz Demobilisierungswahlkampf (!) – aus dem Nichtwählerlager. Bei den reinen Stimmengewinnen machen NichtwählerInnen den bei weitem größten Anteil aus. Neben der erwartbaren Normalisierung der FDP-Werte, liegt hier das größte mittelfristige Potenzial für die CDU, wenn sie sich als attraktive Partei der politischen Mitte positioniert.

Schlussfolgerungen

Es scheint ein wenig so, als wäre die Konkurrenz von rechts in diesem Wahlkampf das kleinere Problem von Angela Merkel gewesen. Das größere Problem war hausgemacht: Der bewusst dröge Wahlkampf der CDU, vor allem auf das Kleinhalten der SPD ausgerichtet, hat die als frisch und jung auftretende FDP besonders frisch und besonders jung aussehen lassen. Demobilisierung war als Strategie nicht erfolgreich, weil auch auf den hinteren Plätzen bei dieser Wahl eine muntere Auseinandersetzung tobte. Trotz der erstarkten AFD konnte die CDU nur unterproportional von der gestiegenen Wahlbeteiligung profitieren. Naheliegende Diagnose: In dieser Situation zu wenig Profil gezeigt.

Unter dem Strich spricht aber wenig dafür, dass ein Rechtsruck für die CDU mittelfristig erfolgversprechend ist. Selbst wenn es gelingt, Teile der AFD zurückzugewinnen, würde die Partei für den erforderlichen Stilwechsel in der Mitte teuer bezahlen – und ihre Koalitions- und Hegemoniefähigkeit bis ins linke Lager hinein einbüßen. Der SPD unterdessen könnte man eine solche Fehlentscheidung der Union nur wünschen.

Wenn aber der eingeschlagene Kurs der gesellschaftlichen Öffnung für die Union ohne sinnvolle Alternative bleibt, müsste sie in dieser (neuen) gesellschaftlichen Mittelposition eine eigene, modern-konservative Identität entwickeln. Sie müsste es – anders als bei dieser Wahl – schaffen, ErstwählerInnen und bisherige NichtwählerInnen zu binden. Dafür genügt die Leerformel „Keine Experimente“ beziehungsweise „fedidwgugl“ allerdings nicht. Keine leichte Aufgabe für eine konservative Partei.

Schatten und Licht

Das Wahlergebnis der AFD ist auch eine Chance für die demokratischen Parteien

Um den Titel nicht falsch zu verstehen: Es ist eine schreckliche Entwicklung, dass nun erstmals seit der Nachkriegszeit wieder eine offen rechtsextreme und in Teilen neonazistische Partei im deutschen Bundestag sitzt. Die Bernd-Höcke-Partei hat nun Zugang zu Ressourcen und Informationen, dass es einen schaudern lässt. Vor allem aber hat sie die optimale Plattform, um ihr menschenverachtendes Gedankengut weiter zu verbreiten. Darum wäre es besser, wenn das Land anders abgestimmt hätte.

Aber: Jammern hilft nix – und die Suche nach der einer Seite hilft auch, die eigene Aufgabe klarer zu erfassen. Es ist ja nicht so, als ob das nationale und rassistische Gedankengut erst mit der AFD in die Welt gekommen wäre. Die wissenschaftlich Einstellungsforschung dokumentiert seit vielen Jahren in den so genannten Mitte-Studien, dass bis zu 20 Prozent der Bevölkerung offen sind für bestimmte Thesen aus der rechtsextremen Denkwelt. Vor allem Ausländerfeindlichkeit und National-Chauvinismus waren und sind nach diesen Untersuchungen „schon immer“ bis weit in die „politische Mitte“ hinein verbreitet. Jetzt hat dieses Potenzial eine eigene politische Partei und wird erstmals in seiner ganzen Breite sichtbar.

Das Sichtbarwerden des vormals Unsichtbaren erlaubt eine andere Qualität der öffentlichen Auseinandersetzung. Es zwingt dazu, den Parolen der Rechtsextremen die eigene Version einer liberaleren und offeneren Gesellschaft entgegenzusetzen. Man kann jetzt nicht mehr so tun, als gäbe es diese Einstellungen nicht oder als würden sie nur von einer verschwindend kleinen Minderheit geteilt. Diese Gesellschaft hat ein Rassismus-Problem – und sie hat es nicht erst seit dem 25.9.2017.

Zweitens zwingen die neuen Rechtsextremen die Parteien auch zur Auseinandersetzung mit rechtsextremen Gedankengut nach innen. Man wird in Zukunft am Grad der Zustimmung der AFD sehr leicht ablesen können, wann eine Partei den Boden des demokratischen Konsenses verlässt. Sahra Wagenknecht konnte dies schon einmal am eigenen Leib erfahren. Die AFD ist geeignet, den anderen Parteien den Zerrspiegel der eigenen Intoleranz vorzuhalten.

Dies gilt, wenn es gelingt, das völkische und nationalistische Gedankengut der AFD öffentlich zu dekonstruieren und sich klar davon abzugrenzen. Leider scheint die Reise – insbesondere in der CSU – derzeit eher in einer andere Richtung zu gehen. Im Gegensatz zu den Glaubenssätzen mancher in der CDU/CSU wird es kaum gelingen, relevante Teile der WählerInnenschaft vom rechten Rand zurückzugewinnen. Nur 18 Prozent der AFD-WählerInnen sind von der Union „übergelaufen“, deutlich mehr, 25 Prozent, sind frühere NichtwählerInnen. Die Gefahr ist vielmehr, dass sich die demokratischen Kräfte im Streit über den Umgang mit der AFD (und ihrem Gedankengut!) bis zur Regierungsunfähigkeit zerstreiten. Eine solche Entwicklung, bei der die eine Seite sich bei den Rechtsextremen anbiedert und die andere Seite sich in der Opposition dazu radikalisiert, könnte tatsächlich eine gefährlich Destabilisierung des demokratischen Systems bedeuten.

Die demokratischen Parteien müssen zwar den Kampf in der Sache hart miteinander führen – auf jeden Fall wieder härter als bisher -, in der Auseinandersetzung mit Antidemokraten müssen sie sich aber weiterhin an ihre gemeinsamen Werte erinnern. Der Kampf um die offene Gesellschaft hat gerade erst begonnen.