Rettet die Aufklärung!

Über Olaf Scholz, Wissenschaftsfeindlichkeit und die Demokratie

Anlass für diesen Text ist ein Interview, dass Bundeskanzler Olaf Scholz am gestrigen Sonntag, den 28. März 2022 der Journalistin Anne Will in der ARD gab. Auf die kritische Nachfrage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit eines Energieembargos gegen die Russische Föderation aufgrund des Überfalls auf die Ukraine antwortete Scholz:

„Die [Wirtschaftswissenschaftler, die das für möglich halten,] sehen das aber falsch und es ist ehrlicherweise unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht wirklich funktionieren. Ich kenne in der Wirtschaft überhaupt niemanden, dass das [ein Produktionsstopp in ganzen Industriezweigen] die Konsequenzen wären.“

Scholz unterliegt hier einerseits der verbreiteten Verwechslung von betriebswirtschaftlicher Erfahrung und volkswirtschaftlicher Expertise, sie seit Jahren und Jahrzehnten in Deutschland zu schlechter Wirtschaftspolitik führt. Ständig wird das Interesse einzelner großer Unternehmen mit guter Wirtschaftspolitik verwechselt (im Extremfall bis hin zu Ministererlaubnissen für Unternehmensfusionen, die zu marktbeherrschenden Stellungen führen).

Die Sätze von Scholz haben mich aber aus einem anderen Grund erschreckt: Sie passen gut zu zahllosen ähnlichen Sätzen, die während der Corona-Pandemie von Politiker*innen über epidemiologische Modellierer*innen gesagt wurden. (Die übrigens im Nachhinein sehr oft recht behielten.) Es geht also nicht nur – nicht mal in erster Linie – um Scholz. Aus seinen Sätzen spricht eine in der Politik verbreitete Geringschätzung von Wissenschaftler*innen und der wissenschaftlichen Methode. Und damit letztlich des Weltbildes der Aufklärung.

Dialektik der Aufklärung

Aufklärung war – dem berühmten Diktum Kants zufolge – der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. In der Epoche zwischen ca. 1650 (René Descartes) und 1800 (Immanuel Kant) wagten Menschen den Versuch, durch eigenes Denken – und ohne den Umweg über Offenbarung und Tradition – zu einer Erkenntnis von Wirklichkeit zu gelangen.

Die moderne wissenschaftliche Methode ist Kind dieser Epoche. Sie versucht, Wirklichkeit ausschnittsweise in (oft mathematischen) Modellen abzubilden und überprüft diese Modelle dann empirisch. So gelangt sie zu allgemeinen, gesetzmäßigen Aussagen, die Voraussagen über komplexe Zusammenhänge ermöglichen. Der Mensch kann durch die den eigenen konkreten Erfahrungshorizont und die Grenzen der eigenen sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit übersteigen. Moderne Mobiltelefone, Computer, Internet oder auch nur die Teflonpfanne – sie wären ohne die wissenschaftliche Methode nicht vorstellbar.

Weitere Kinder dieser Epoche sind die in Geschwisterrivalität verbundenen Zwillinge Republikanismus und Liberalismus. Darunter verstehe ich erstens den Gedanken, dass es Staatlichkeit um ein öffentliches Gut zu gehen habe und nicht um das Interesse eines Herrschers. Und zweitens den Gedanken, dass sich legitime Staatlichkeit letztlich nur von den Freiheits- bzw. Menschenrechten der Einzelnen ableiten kann.

Die beiden Aspekte – Wirklichkeitsorientierung und Republikanismus/Liberalismus – bedingen einander. Auf der einen Seite ist die Freiheit des Menschen eine Bedingung für wissenschaftliche Erkenntnis – diese funktioniert nur durch Abweichung und Kritik. Und auf der anderen Seite ist es gerade eine Orientierung an Wirklichkeit, die Republikanismus und Liberalismus vor einem Abgleiten in Ideologie bewahren. So ist es ein regelmäßiger „Realitätscheck“ in Form freier, gleicher und geheimer Wahlen, der aus dem freien Wollen Einzelner eine legitime Herrschaft ableitet.

Aber ebenso erforderlich ist es halt auch, dass das, was „öffentliches Interesse“ ist, konzeptionell gegründet ist auf einem bestmöglichen Verständnis dessen, was möglich und wirklich ist.

Erkenntnistheoretischer Nihilismus

Was mich an der Politik erschreckt, die Olaf Scholz zum Ausdruck gebracht hat, ist ihr erkenntnistheoretischer Nihilismus. Es ist eine Politik, die sich nicht an wissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnis orientieren will, weil sie wissenschaftliches Wirklichkeitserkenntnis letztlich für unmöglich (oder störend) hält. Deshalb beschränkt sie sich auf Erfahrungen, auf das Subjektive, auf „Fahren auf Sicht“. Und auf jene „Expertenmeinungen“, die mit der eigenen Sicht übereinstimmen.

Politik verkommt so zum freien Spiel von Meinung und Gegenmeinung, bei dem immer die eigene Meinung die richtige ist. Irrtum ist methodisch ausgeschlossen, weil eine die eigene Erfahrungswelt übersteigende Erkenntnisquelle methodisch ausgeschlossen ist. Gerade diese Politik lässt unter dem Signum der Ideologiefreiheit den Ideologien (und seien es aus dem Lobbyismus geborene) den maximalen Raum, weil sie sich selbst des kritischen Moments der Vernunft beraubt. Und so sehr dies Olaf Scholz zuwider laufen dürfte: Diese Haltung führt schnell in eine Welt der alternativen Fakten und „fake news“, bei der zur Not ganze „Wissenschaften“ erfunden werden, um die eigene Position zu untermauern. Und irgendwann retten auch formal freie Wahlen die Demokratie nicht mehr.

Insofern muss die Forderung an Politik und Journalismus, an Wissenschaft und Öffentlichkeit lauten: Rettet die Aufklärung! Fordert eine Politik ein, die sich an den besten Wirklichkeitsbeschreibungen orientiert, die ihre Zeit zu bieten hat! Rehabilitiert den öffentlichen Vernunftgebrauch! Lasst uns Politiker*innen nicht mit unseren Wordings und Narrativen und dem Fahren auf Sicht durchkommen!

Und Übrigens: Im Wahlkampf hat Olaf Scholz den Altkanzler Helmut Schmidt als sein großes Vorbild gezeichnet. Helmut Schmidt war Ökonom.

Im Lockdown die Offenheit bewahren

Einige Gedanken zu den gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und zur politischen Aufgabe über die akute Nothilfe hinaus.

Corona ist die schwerste öffentliche Gesundheitskrise der vergangenen Jahre. Zugleich ist Corona eine wirtschaftlich und vor allem soziale Krise, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine harte Probe stellt. Viele Institutionen sind beeinträchtigt, die in normalen Zeiten eine offene Gesellschaft zusammen bringen: Dies beginnt bei den demokratischen Institutionen selbst, den Parlamenten und Parteien. Die Absage der großen Parteitage – auch der GRÜNEN in Niedersachsen – und die Ungewissheit, wie der innerparteiliche Willensbildungsprozess in den kommenden Monaten funktionieren wird, sind Beispiele. Noch dramatischer betroffen ist der zivilgesellschaftliche Teil unserer demokratischen Gesellschaft, die Basis des demokratischen Diskurses. Vereine und Gruppen, die ihre Treffen auf das Nötigste reduziert haben, Versammlungen, die nur noch unter Auflagen möglich sind, informelle Treffen in Cafés, auf Partys oder in Kneipen, die derzeit nicht mehr stattfinden können. Es fehlt die Plattform zum Austausch, um Gemeinsamkeit zu stiften, Kontakte zu schaffen, Vereinzelung zu überwinden und Vorurteile abzubauen.

Kulturschaffende, Gastronom*innen, Veranstaltungstechniker*innen, viele soloselbständige Trainer*innen und Dienstleister*innen, Studierende mit Nebenjobs, aber auch ganze Branchen wie Theater, Clubs, Sportstudios, Bars und Restaurants verlieren ihre wirtschaftliche Grundlage. Es vertiefen sich ökonomische Ungleichgewichte zu Lasten von Menschen, die schon außerhalb der Krise oftmals in wirtschaftlich prekären Verhältnissen arbeiten. Für sie existieren derzeit zu wenige maßgeschneiderte Hilfsangebote, weil viele bisherige Unterstützungen vom sogenannten Regelarbeitsverhältnis ausgehen, das aber längst nicht mehr die Regel ist.

Andere werden in der Pandemie besonders gefordert – allen zuvorderst natürlich die Beschäftigen des Gesundheitssystems, aber auch Erzieher*innen, Lehrer*innen, Polizist*innen – aber auch alle, die unter den erschwerten Bedingungen ihrer normalen Arbeit nachgehen, die die zusätzliche Belastung durch Homeoffice und eingeschränkte Kinderbetreuung tragen müssen. Es gibt gesellschaftliche Spätfolgen der Pandemie, die bereits jetzt absehbar sind, wie vor allem der emanzipatorische Rückschritt, dass Frauen im Lockdown wieder viel stärker in traditionelle Rollenbilder gedrängt werden, zusätzlich Care- und Familienarbeit übernehmen und dadurch die Errungenschaften vergangener Jahre verloren gehen.

All’ diese kleinen und großen, teilweise kaum zu verhindernden Ungerechtigkeiten setzen unsere Gesellschaft einem beträchtlichen Stress aus. Die Aufgabe der Politik in dieser Zeit ist zuvorderst der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung durch Maßnahmen, die insgesamt verhältnismäßig und rechtsstaatlich vertretbar sind. Es ist aber auch die Aufgabe von Politik, jenseits der wirtschaftlichen Entwicklung an das Überleben einer offenen Gesellschaft in einer vielleicht zweijährigen Zeit der Pandemie zu denken. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich bestehende Gräben vertiefen, dass die Akzeptanz schwindet und jene Oberwasser bekommen, die eine andere, weniger liberale Gesellschaft wollen. Wir müssen im Lockdown die Offenheit bewahren.

Kein Freibrief für die Exekutive – eine Perspektive für die Gesellschaft

Die Corona-Krise ist eine Zumutung für Demokrat*innen, weil sie die gewohnten demokratischen Abläufe und Rituale durcheinander wirbelt und teilweise unmöglich macht. Sie ist aber noch keine Krise der Demokratie. Das zeigt sich in der funktionierenden Kontrolle durch unabhängige Gerichte, in einer kritischen Presselandschaft und letztlich auch darin, dass die Parlamente deutlich und erfolgreich ihre Beteiligung einfordern.

Die Krise ist die Stunde der Exekutive – aber sie ist kein Freibrief. Eine parlamentarische Debatte und eine offene Kommunikation in der Öffentlichkeit zwingt die Regierung, die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Einzelnen nachvollziehbar zu begründen – und eine schlüssige Begründung ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass sie von Öffentlichkeit und Gerichten (!) als verhältnismäßig beurteilt werden. Neben einer nachvollziehbaren Begründung ihres Handelns gegenüber Parlament und Öffentlichkeit muss die Landesregierung den kommunalen Gesundheits- und Ordnungsämtern, der Polizei, den Schulen und Kindergärten klare Handreichungen für den Winter geben geben – zum Beispiel bei der Umsetzung der Quarantäneanordnungen und Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung oder für den sicheren Unterrichts im Winter. Denn auch eine einheitliche und nachvollziehbare Umsetzung der Maßnahmen ist wesentliche Voraussetzung für ihre Akzeptanz.

In der wirtschaftlichen und sozialen Krise müssen wir politisch jene in den Blick nehmen, die in dieser Situation besonders verwundbar sind. Dies wäre der Zeitpunkt, um endlich über eine bedarfsgerechte Finanzierung von Frauenhäusern zu sprechen. Dies wäre der Zeitpunkt, einen Umgang mit dem verlorenen Schuljahr 2020/21 zu finden, unter dem nicht die Kinder in bildungsfernen Elternhäusern besonders leiden. Dies wäre der Zeitpunkt, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem und in der Pflege zu verbessern und systematischen Fehlentwicklungen zu begegnen.

Zugleich haben wir einen dringenden Bedarf an neuen Formen des Diskurses und des Austausches in Politik und Gesellschaft und an Formaten, die entlasten, Gemeinschaft stiften und Zusammenhalt verbessern. Wir brauchen eine Perspektive für die Zivilgesellschaft. Dies wäre die Zeit, um vielen Kulturschaffenden und Kreativen, selbstständigen Kommunikationexpert*innen die Möglichkeit einzuladen an neuen Formaten des Austausches zu arbeiten, neue Formen der kulturellen Bereicherung unseres Alltages zu finden und Debattenräume zu eröffnen. Ich bin ausdrücklich dafür, dass wir ihnen ein Angebot jenseits von HartzIV machen – aber nicht als „bedingungsloses Einkommen“, sondern als öffentliches Stipendium. Wir könnten damit damit die kulturellen und kommunikativen Errungenschaften aus dem ersten Lockdown wiederbeleben – nur dieses mal mit einem fairen Lohn.

Und ja, um dies alles zu finanzieren, wird man nach der Krise über einen fairen Lastenausgleich sprechen müssen. So viel Mut muss sein.

Die Stärke der Demokratie

Wird die Corona-Krise auch zu einer Krise der Demokratie? Nein – sie erweist auch in der Krise ihre Stärke. Ein bewusst positiver Kommentar.

Warum ich in Corona keine Gefahr für die offene Gesellschaft sehe

Bei ihrer Pressekonferenz am 16. März, bei der Angela Merkel einschneidende Maßnahmen im Kampf gegen die Ausbreitung des Corona-Virus ankündigte, bekam die Bundeskanzlerin eine brisante Frage gestellt: Wie lange denn eine freie und offene Gesellschaft die massenhafte Einschränkung von Grundrechten aushalten könne. Angela Merkels Antwort war eine typisch gewundene Nicht-Antwort und lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Es muss halt jetzt sein.

Wer übelwollend ist, könnte daraus die Wiederkehr einer Politik der Alternativlosigkeit ableiten – ein Aushebeln der Demokratie, die ja auch immer etwas damit zu tun hat, eine Wahl zu haben. Verständlicherweise sind es nicht wenige vor allem Links-Liberale, die die massenhafte Einschränkung von Grundrechten – und die Bereitschaft, mit der sie hingenommen werden – mit größter Sorge betrachten. Droht hier die schleichende Rückkehr des Autoritarismus?

Die Fernsehansprache der Kanzlerin zwei Tage später hat eine andere Botschaft: Sie ist ein Appell an mündige Bürgerinnen und Bürger, das in einer außergewöhnlichen Situation Notwendige zu tun. Und sie deckt sich mit meiner Wahrnehmung: Die Pandemie ist eine Bewährungsprobe, in der die Demokratie ihre große Stärke zeigt.

Schutzpflicht und Verhältnismäßigkeit

Auch mir macht die massenhafte Beschneidung von Grundfreiheiten ein mulmiges Gefühl – das umso mulmiger wird, als einige Kommentatoren (m.) ohne jeden einschlägigen wissenschaftlichen Hintergrund immer weitergehende Einschränkungen fordern. Aber sind sie prima facie eine Gefahr für die offene Gesellschaft?

Der Schutz der Bevölkerung ist gerade auch im Krisenfall eine der wichtigsten Aufgaben und Legitimationsquellen des Staates – nicht erst seit Hobbes’ „Leviathan“, sondern mindesten seit dem Mittelalter. Man stelle sich nur einmal hypothetisch vor, die Bundesrepublik würde es unter Verweis auf die Grundfreiheiten ablehnen, wirksame Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zu ergreifen, würde den Kollaps des Gesundheitssystems und damit tausende unnötige Todesfälle in Kauf nehmen. Das politische System, das derart Grundfreiheiten über Menschenleben stellt, würde schneller beseitigt als man „Maslow’sche Bedürfnispyramide“ sagen kann.

Deswegen gilt: In außergewöhnlichen Zeiten kann – und muss – auch eine liberale Demokratie zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen.

Ein demokratietheoretischer Widerspruch ergibt sich daraus zunächst einmal nicht: Die Einschränkung individueller Grundrechte ist gewissermaßen das Wesen von Staatlichkeit – jedes Ordnungsrecht greift in die allgemeine Handlungsfreiheit ein, jede Steuer in das Eigentum. Grundrechtseinschränkungen sind keine Gefahr für die Demokratie, wenn sie 1. auf demokratisch beschlossenen Gesetzen beruhen, 2. einen legitimen (d.h. auch: verfassungsgemäßen) Zweck verfolgen und vor allem 3. in Bezug auf diesen verhältnismäßig sind.

Kurz gefasst: Außergewöhnliche Gefahren rechtfertigen auch sehr weitgehende Maßnahmen, wenn sie denn notwendig sind. Hinter dem Merkel’schen „Es muss jetzt halt sein“ verbirgt sich der zutiefst rechtsstaatliche Gedanke der Verhältnismäßigkeit.

Die Mär von der Überlegenheit der Autokratien

Es ist ein altes Vorurteil gegenüber liberalen Demokratien, dass sie existenzbedrohenden Krisen – sei es ein militärischer Konflikt oder eine schwere Naturkatastrophe – hilflos ausgeliefert seien. Demokratien stehen im Verdacht, sie seien zu langsam und aus Rücksicht auf individuelle Grundrechte nicht zu harten Entscheidungen fähig. Auch jetzt schwingt mancherorts Bewunderung für das autoritär regierte China mit, das mit drastischen Maßnahmen Erfolg bei der Bekämpfung der Krankheit hatte.

Es wird regelmäßig vergessen, dass das chinesische System jenen Arzt mundtot gemacht hat, der im Dezember 2019 vor dem seit dem November grassierenden Virus warnte, und so eine Chance zu seiner frühzeitigen Eindämmung vertat. Das System reagierte augenscheinlich erst nach etwa eineinhalb Monaten – nach dem 20. Januar. Auch ein Blick nach Russland zeigt, wie ein autoritäres Regime die Krise ignoriert, um die eigenen machtpolitischen Ziele nicht zu gefährden.

Im Vergleich dazu stehen die westlichen Demokratien nicht unbedingt schlechter da. Sogar das Beispiel der USA zeigt, wie ein System mit „checks and balances“ die katastrophalen Fehler des narzistischen Autokraten im weißen Haus teilweise ausgleichen kann: Während Trump die Krise totschwieg, warnten Wissenschaft und ein Teil der Medien. Bundesstaaten begannen zu handeln (übrigens ähnlich wie beim Klimaschutz) und unter öffentlichem Druck wurde auch die US-Bundesregierung tätig. Um mich nicht falsch zu verstehen: Trump ist gerade jetzt eine Katastrophe für die Vereinigten Staaten. Aber man stelle sich Trump einmal ohne freie Medien, eine freie Wissenschaft und föderale Strukturen vor. Schauderhaft.

Man kann sich auch die Ereignisse in Deutschland ansehen: Als vor zwei Wochen einige Bundesländer zögerten, die Schulen zu schließen, brachte das „Vorpreschen“ anderer Länder und der einsetzende öffentliche Druck sie schnell zur Räson. Dass bestimmte Politiker der Exekutive (nicht nur in Bayern und nicht nur in Deutschland) die Krise zur eigenen Profilierung nutzen, kann man unschön finden – der Bewältigung der Lage scheint dieser Egoismus jedoch derzeit eher zu nutzen als zu schaden. Ein System funktioniert manchmal umso besser, wenn Menschen aus den falschen Gründen das Richtige tun.

Das bedeutet nicht, dass nicht in Deutschland und Europa schwere und schwerste Fehler gemacht worden wären. Aber Vieles spricht dafür, dass es nicht Unzulänglichkeiten der Demokratie sondern die Fehler fehlbarer Menschen waren.

Mündige BürgerInnen

Auf der anderen Seite gibt es Aspekte, die Demokratinnen in Deutschland Mut machen können: Das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen ist insgesamt sehr hoch – vor allem in das Robert-Koch-Institut und die Einrichtungen des Gesundheitssystems. Aber eben auch in die öffentlich-rechtlichen Medien, in die gewählte Regierung und in die Verwaltung. Ein überwältigender Teil der Bevölkerung befürwortet die ergriffenen Maßnahmen, nach meinem Eindruck, aus Einsicht in ihre Notwendigkeit – und nicht aus einem obrigkeitshörigen Impuls heraus oder gar aus Angst vor Repressionen. Daran ändert auch die Existenz einiger – mit Verlaub – infantiler Deppen wenig, die mit Corona-Partys am Ende polizeiliche Maßnahmen notwendig machen. Ihnen gegenüber steht eine überwältigende Mehrzahl an Personen, die in der Krise nicht nur vernünftig reagieren, sondern freiwillig und ohne Zwang anderen helfen – egal ob in den Einrichtungen des Gesundheitssystems oder in der Nachbarschaft. Mit den Übrigen, den Unvernünftigen wird eine besonnen agierende Polizei fertig. Deshalb bleibt die berechtigte Hoffnung, dass allgemeine Ausgangssperren nicht kommen werden und auch die Bundeswehr weiter vor allem mit ihren Krankenhäusern und Beschaffungsämtern aushilft.

Mein Eindruck: Die offene Gesellschaft zeigt gerade auch unter den Bedingungen der Krise eine außerordentliche Stärke und Resilienz. Bürgerinnen und Bürger, die in ihrer Mehrheit politisch mündig sind und ein Grundvertrauen in die Institutionen des Staates haben – es auch haben können – erweisen sich gerade als die wichtigste Ressource liberaler Demokratien.

Auf der Suche nach Lösungen

Die neue Rolle der GRÜNEN im Parteiensystems

Ich beschäftige mich mit dem aktuellen Höhenflug der GRÜNEN und denke darüber nach, welche veränderte Rolle auf die Partei zukommt. Der Text soll auch ein kleiner Beitrag zur Debatte im Vorfeld der Landesdelegiertenkonferenz der Niedersächsischen GRÜNEN in Celle (27.-28.10.18)sein. Der Text ist in relativ kurzer Zeit entstanden – daher der etwas essayistische Stil.

1. Im Herzen der Gesellschaft angekommen

Siebzehnkommafünf Prozent bei den Landtagswahlen in Bayern. Zweiundzwanzig Prozent in manchen Umfragen zur hessischen Landtagswahl. Zweitstärkste Kraft mit um die zwanzig Prozent bei Umfragen im Bund. Siebenundvierzig Prozent der Wählerinnen und Wähler, die sich vorstellen können, die GRÜNEN zu wählen, meldet der SPIEGEL. Beteiligt an neun Landesregierungen in unterschiedlichsten Koalitionsmodellen. Hohe Zustimmungswerte zu GRÜNEN Positionen bei Landwirtschaft und Verbraucherschutz, dem Umgang mit dem Diesel-Skandal (!), bei Emanzipation und Gleichstellung, bei der Notwendigkeit sozialen Ausgleichs und so weiter und so weiter, melden die verschiedensten Umfragen.

Es lässt sich nicht leugnen, dass sich die politische Rolle der GRÜNEN seit dem Ende der rot-grünen Bundesregierung 2005 erheblich verändert hat. Die Koch-Kellner-Metapher eines Gerhard Schröder 1998 ist nur noch eine dunkle Erinnerung. Inzwischen sind die GRÜNEN rein faktisch eine eigenständige Kraft, die Regierungsverantwortung in verschiedenen Konstellationen übernimmt – und damit keineswegs schlecht fährt.

Ebenso interessant sind die Umfragen, die belegen, dass GRÜNE Ideale – von der Nachhaltigkeit bis zur vollen Gleichstellung Homosexueller – inzwischen gesellschaftlicher Mainstream sind. Die Zustimmung ist zwar oftmals abstrakt und verschwindet gelegentlich, wenn die Windräder in der Nähe des eigenen Hauses gebaut werden sollen. Trotzdem ist sie da.

Die GRÜNEN sind einmal als Protestpartei gestartet, die gegen breite gesellschaftliche Mehrheiten notwendige Veränderungen politisch durchkämpfen wollten – und durchgekämpft haben. Heute werden viele GRÜNE Ideale von breiten Mehrheiten geteilt. Die neuen gesellschaftlichen Bewegungen, aus denen die Partei hervorgegangen ist, sind im Herzen der Gesellschaft angekommen – und mit ihnen die GRÜNEN.

2. Das Ende des Modells „Volkspartei“

Zugleich ist die Rede von einer neuen GRÜNEN Volkspartei ziemlicher Unsinn – außer vielleicht in Baden-Württemberg. Zwanzig Prozent reichen schon allein numerisch nicht für dieses Prädikat. Vor allem aber ist das politische Modell „Volkspartei“ für die GRÜNEN insgesamt eher ungeeignet – und es ist ein Modell mit rapide schwindender Bedeutung.

Der Niedergang der SPD, die in aktuellen Umfragen nur noch noch viertstärkste Partei im Bund ist, sowie der CDU, die zum Ende der Ära Merkel zunehmend ihre Hegemoniefähigkeit verliert, sind teilweise bedingt durch eigenes Fehlverhalten – Stichwort Causa Maaßen. Es ist aber augenscheinlich, dass es tieferliegende gesellschaftliche Ursachen gibt.

Das Modell „Volkspartei“ hat seine Wurzeln in einer relativ homogenen Nachkriegsgesellschaft, in der es möglich war, breite gesellschaftliche Strömungen anhand zweier dominierender Erzählungen zu sammeln: Einer konservativ-christlichen und einer progressiv-sozialdemokratischen. Die großen gesellschaftlichen Widersprüche ließen sich ebenfalls anhand dieser Narrative ausbuchstabieren: Westbindung und neue Ostpolitik, Wirtschaftswunder und beginnende Massenarbeitslosigkeit und dahinter – nicht zuletzt – der gute alte „Hauptwiderspruch“ zwischen arbeitender und besitzender Klasse. Die Leistung der Volksparteien bestand darin, diese politischen Konflikte zu kanalisieren und zu zivilisieren.

Die Methode zur Bindung gesellschaftlicher Konflikte bestand auch darin, die Konflikte innerhalb des eigenen Elektorats weitgehend abzumoderieren und in den Schatten der übergreifenden Konflikte zu stellen. Schon die Mischung der CDU aus konservativ, wirtschaftsliberal und christlich-sozial passt nicht ohne erhebliche Spannungen zusammen. Auch innerhalb der SPD existieren ähnliche Konflikte zwischen klassischer (Industrie-)ArbeiterInnenschaft, prekarisierten/marginalisierten Gruppen und einer emanzipatorischen Avantgarde. Der Begriff „Volkspartei“ suggeriert eine Homogenität, die es zunehmend weniger gibt. Das Konsensmodell der Volksparteien ist eine Mischung aus „kleinstem gemeinsamen Nenner“ und dem „äußeren Gegner“. Angela Merkel war die letzte Großmeisterin dieses Konsensmodells, ihr „äußerer Gegner“ die unsichere Welt der Globalisierung.

Die Krise der Volksparteien lässt sich sehr gut damit erklären, dass dieses Modell nicht mehr funktioniert. Einerseits fehlen die großen politischen Konfrontationen der Nachkriegszeit. Sie wurden ersetzt durch den neuen (Vielleicht: „Haupt-„) „Widerspruch“ zwischen den VerteidigerInnen der offenen Gesellschaft und ihren FeindInnen, bei dem die Konfliktlinien mitten durch die „Volksparteien“ verlaufen. Im Fall von Angela Merkel bedeutete das, dass zuerst in der Banken und zuletzt in der Flucht-Krise deutlich wurde, wie zerbrechliche ihre Erzählung ist, das Land vor den Stürmen der internationalen Entwicklungen schützen zu können.

Zugleich hat sich die Zahl der gesellschaftlichen Konflikte vervielfacht und sind die Konfliktlinien zunehmend unübersichtlich geworden. Konflikte bestehen heute nicht nur zwischen Besitzenden und Arbeitenden. Sie bestehen auch zwischen etablierten Industrieunternehmen und jungen Start-Ups, zwischen FacharbeiterInnen der Stammbelegschaft, LeiharbeiterInnen und Freiberuflichen, zwischen Arbeitenden in der Industrie und DienstleisterInnen. Konflikte bestehen zwischen Stadtbevölkerung und Landbevölkerung – genauer zwischen Stadtbevölkerung, Vorstadtbevölkerung und Landbevölkerung, was in der Mobilitätsfrage besonders deutlich wird. Konflikte bestehen zwischen dieser und kommenden Generationen – Stichwort Rente und Ökologie. Konflikte bestehen zwischen gut Ausgebildeten, im internationalen Wettbewerb Konkurrenzfähigen, und weniger gut Ausgebildeten. Konflikte bestehen zwischen einer digitalen Avantgarde und jenen, deren ökonomische und soziale Existenz durch die Digitalisierung in Frage gestellt wird. Sie bestehen zwischen jenen, die mit allen Möglichkeiten und Chancen zur Welt gekommen sind und jenen, die nur Schulden geerbt haben. Konflikte bestehen leider immer noch zwischen den Geschlechtern. Zwischen Zugewanderten und Alteingesessenen. Und so weiter. Und so weiter.

Und das Entscheidende: Diese Konflikte und objektiven Probleme lassen sich nicht auf dem alten Weg über Formelkompromisse und eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners befrieden. Dafür sind sie zu vielfältig und gleichzeitig zu tiefgreifend.

3. Die Neue Rolle der GRÜNEN – Veränderungswillen und Kompromissfähigkeit

Was ist in dieser neuen gesellschaftlichen Situation die Rolle der GRÜNEN? Genauer: Was könnte sie sein? Denn noch sind die Umfragewerte und Wahlergebnisse für die Partei vor allem Hoffnungswerte.

Die GRÜNEN sind eine widersprüchliche Partei, selbst ein Kind der neuen Wirklichkeit. Sie sind das Produkt vieler gesellschaftlicher Bewegungen: Ökologiebewegung, Friedensbewegung, Frauenbewegung, „neue Linke“ etc. Die Stärke der GRÜNEN besteht seit jeher darin, dass sie durch ihre Wurzeln in den sozialen Bewegungen bestehende Konflikte und Probleme in aller Schärfe benennen können. Sie haben weniger den Hang zum Aussitzen, Abmoderieren und Verschweigen, der die Politik von SPD und CDU stellenweise kennzeichnet. Die Fähigkeit zum Zuspitzen und zum Konflikt ist in dieser Situation eine Stärke der GRÜNEN.

Zugleich haben sie sich in Jahren der innerparteilichen Konflikte auch eine Fähigkeit erarbeitet, die mindestens ebenso wichtig ist. Diese Fähigkeit wird deutlich, wenn man das harte Ringen der Jamaika-Verhandlungen mit vielen schmerzhaften aber inhaltlich tragfähigen (!) Kompromissen betrachtet. Es ist richtig, dass viele Menschen die ewige Friedhofsruhe in der Politik satt haben. Ein Streit um des Kaisers Bart ohne Ziel und Ergebnis, Konflikt um des Konfliktes Willen, eine Politik des Nullsummenspiels wird allerdings ebenso wenig honoriert. Zu benennen, was falsch läuft, ohne eine Idee davon zu entwickeln, wie es besser laufen könnte, ist der Weg einer Protestpartei. Die Kunst besteht vielmehr darin, ernsthaft in der Sache zu ringen und zu allseitig tragfähigen Lösungen zu kommen. Ein gutes Beispiel dafür war das grüne Auftreten bei den Jamaika-Sondierungen – oder in der Landesregierung in Schleswig-Holstein.

Das Angebot der GRÜNEN könnte darin bestehen, die tatsächlichen gesellschaftlichen Konflikte ernsthaft zu bearbeiten und an der Sache orientierte, faire und tragfähige Lösungen zu suchen. Das wird niemals für vierzig Prozent reichen. Zum Glück nicht. Aber es könnte dazu beitragen, das politische System zu stabilisieren und in Zeiten einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft arbeitsfähig zu halten.