Wir haben es verkackt

EDIT: Ich hatte den Text zwischenzeitlich auf „privat“ gestellt, nachdem ich auf interne Aufarbeitungsprozesse hingewiesen wurde, die ich vorher noch nicht kannte. Nachdem jetzt teilweise Presse berichtet hat, habe ich ihn wieder online gestellt, damit Menschen nachlesen können, was ich wirklich gesagt habe.

Nach dem Wahlergebnis der GRÜNEN am Sonntag musste ich meinem Ärger mal Luft machen. Wenn die einen über Koalitionen spekulieren und andere wieder über die Kandidatin reden, finde ich: Wir müssen über diesen Wahlkampf sprechen.

Nach den Bundestagswahlen reden wir bei den GRÜNEN viel über Personen und Koalitionen. Wir sollten auch über Wahlkampf reden.

„Haben die GRÜNEN eine historische Chance verspielt?“ fragte der Moderator im SPIEGEL-Podcast „Stimmenfang“ von 23. September die eingeladene Expertin Melanie Amann. „Ich denk, ja. So einfach ist es“, antwortete diese sinngemäß.

Ich bin stinksauer. Mit 14,8 Prozent der Stimmen erzielten die GRÜNEN bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 zwar das beste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte, blieben aber deutlich hinter dem zurück, was möglich – und angesichts der historischen Herausforderungen v.a. des Klimawandels auch erforderlich – gewesen wäre. Denn im langfristigen Trend der Prognosen zwischen 2019 und 2021 bewegte die Partei sich im Korridor zwischen 20 und 25 Prozent. Teilweise als stärkste Kraft. Das war die Zielmarke. Wir müssen über den Wahlkampf reden – auch wenn sehr viele nun vor allem über Koalitionen reden wollen.

Nun weiß man es hinterher immer besser. Es ist sehr leicht, vom Spielfeldrand alles besser zu wissen. Aber vielleicht ist es diesem – um in der Fußballmetaphorik zu bleiben – Kreisklassentrainer ja erlaubt auszusprechen, was allen klar ist: Wir hatten es in der Hand und wir haben es – ganz nüchtern gesprochen – verkackt.

Die falsche Kandidatin?

Die naheliegende Erklärung, wir hätten schlicht die falsche Kandidatin nominiert, greift mir zu kurz – auch wenn eine junge Person ohne Exekutiverfahrung und mit Wahlerfolgen vor allem in der eigenen Partei eine sicherlich mutige Entscheidung war. Aber keine Mannschaft verliert nur wegen der Mittelstürmerin. In der Situation der Nominierung im April schien die Entscheidung jedenfalls nicht als Fehler und die sehr starke Leistung von Annalena Baerbock in den drei Triellen und anderen TV-Auftritten haben die Qualität der Kandidatin eindrucksvoll gezeigt.

Es ist heute unmöglich zu sagen, ob der Wahlkampf mit Robert Habeck als Kanzlerkandidaten grundlegend anders verlaufen wäre. Auch Robert macht Fehler, die ein politischer Gegner ausschlachten kann und bei denen man eine überzeugende Gegenstrategie hätte haben müssen (die wir nicht hatten). Und wenn man so weit in die hypothetischen Überlegungen geht, müsste man ja auch darüber nachdenken, ob man im grünen Selbstverständnis nicht konsequent auf diese Zuspitzung auf eine Person hätte verzichten müssen. Dann hätte man von der Dynamik und dem Zusammenspiel des Duos profitieren können – so überlegte nachdenkenswert der frühere CDU-Wahlkämpfer und Strategieberater Joachim Koschnicke im p&k Wahlcamp.

Was aber – glaube ich – gesagt werden muss: Für die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wäre ein deutlich besserer Wahlkampf möglich gewesen. Und auch einen Kandidaten Habeck hätten wir meiner Meinung nach mit hoher Wahrscheinlichkeit verschlissen. [EDIT] Es geht mir nicht um eine Kritik an Annalena Baerbock als Person oder als Wahlkämpferin. Es geht um die Kampagne. [/EDIT]

Unsere anfängliche Situationsbeschreibung war naiv

Der grundlegende Fehler dieses Wahlkampfs lag dem Augenschein nach schon in der anfänglichen Situationsanalyse. So beschrieb Ulrich Schulte in der taz vom 02. 09. 2021 am Rande in einem Satz, wie ich die Grundannahmen der grünen Kampagne wahrgenommen habe:

„Die Gesellschaft ist weiter, als die Große Koalition denkt, glaubt die Grünen-Spitze. Es brauche nur einen Stupser, dann beginne die ökosoziale Wende von selbst. Bereit, weil ihr es seid.“

Die gesellschaftliche Hegemonie als reife Frucht, die nur eines kleinen Stubsers bedarf, um in den geöffneten Mund grüner Parteistrategen zu fallen? Zumindest würde die Kampagne eine solche Wirklichkeitssicht nahelegen. Es ist ein ähnlicher Fehler in der Analyse, wie wir ihn in der Bundestagswahlkampagne 2013 (unvergessen die „Deutschland-Ist-Erneuerbar-Tour“) gemacht haben und wie er hinterher vom damaligen Spitzenkandidaten Jürgen Trittin klar analysiert wurde.

Die SPD wurde 2021 bereits am Boden gesehen – ihre Ablösung als Volkspartei der linken Mitte nicht als Ziel der Kampagne, sondern als deren Voraussetzung. Man setzte auf eine Zweikampfsituation mit der CDU, die wie von selbst dazu führen würde, die Stimmen des gemäßigt linken Lagers auf sich zu vereinen. Schließlich hatte man unter solchen Effekten selbst oft genug gelitten. Und hat es am Ende wieder.

Folge war dem Augenschein nach eine Kampagne, die ihre eigentliche kommunikative Aufgabe – die öffentliche Begründung des Machtanspruchs – dem Zeitgeist überlassen wollte. Bloß nicht polarisieren und damit Wähler*innen vergraulen. Wahlkampf im Instagram-Modus. Wesentlicher Teil davon war die mangelnde Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Weder hatten wir eine überzeugende Antwort auf die Angriffe gegen unsere Kanzlerkandidatin, noch eine eigene Angriffsstrategie. Anders ausgedrückt: Wenn man den expliziten Anspruch hat, die Union herauszufordern, sollte man nicht gleichzeitig Signale in die Richtung senden, am liebsten als Juniorpartner der Union in die Regierung einzusteigen.

Wir hatten keine überzeugende Wahlkampfstrategie

Der zweite größere Fehler gründete vielleicht in der umjubelten Kandidat*innenvorstellung im April 2021 – fünf Monate vor der Wahl. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste auch die Partei nicht, auf wen es hinauslaufen würde. (sic!) Der Zeitpunkt war zu spät, um die Kampagne organisatorisch und inhaltlich auf die Person an der Spitze zuzuschneiden. Um es klar zu sagen: Für die Kampagnenplanung ist eine solche Zeitplanung der reine Wahnsinn! (An dieser Stellen einen herzlichen Gruß an Martin Schulz und die SPD von vor vier Jahren.) Hinzu kam, dass augenscheinlich mit der Entscheidung nach außen die Führungsfrage nach innen nicht entschieden war. Stichwort: Teamlösung.

In der Folge hat die grüne Kampagne an keinem Punkt ein starkes Themen- und Kandidat*innenprofil jenseits des Klimathemas entwickelt. Die entscheidenden Fragen für eine Partei in der Herausforderer*innenposition haben wir nicht beantwortet: 1. Was läuft gerade falsch? 2. Wie muss es besser laufen? 3. Warum sind wir dafür die Richtigen? Und dabei ganz wichtig: Was hat das mit dir, liebe Wähler*in, zu tun? Nicht in den Printmaterialien, nicht in den Plakaten, nicht im Werbespot oder den Onlineanzeigen und leider auch nicht in Reden und Interviews.

Es mischten sich eine Annalena-Erzählung (Erneuerung), eine Robert-Erzählung (linker Patriotismus und Republikanismus) und das klassisch Grüne (für alles Gute und gegen das Böse). Eine solche Vielstimmigkeit, die parteiintern als etwas Gutes gesehen wird, bewirkt in der Außenkommunikation, dass keine der Botschaften durchdringt. Kaum erzählt wurde nach meiner Wahrnehmung übrigens der oben in der Analyse durchscheinende Narrativ vom Ergrünen der Gesellschaft – also dem Siegeszug grüner Themen in der viel zitierten gesellschaftlichen Mitte. Dies alles für spricht mangelnde Strategiefähigkeit. (Ebenso die mangelnde Fähigkeit, in der sich verschlechternden Situation vor der Wahl auf eine rot-grüne Koalitionsaussage zu setzen, um wenigstens das Abwandern taktischer Wähler*innen zur SPD zu verhindern.)

Zudem ist der Narrativ von Aufbruch und Erneuerung, der sich zunehmend als Kern der grünen Erzählung herausschälte, ein voraussetzungsreicher. Er setzt eine Unzufriedenheit der gesellschaftlichen Mehrheit mit dem Status Quo voraus. In einem Land, in dem die scheidende Bundeskanzlerin nach 16 Jahren Regierung Zustimmungswerte von 64 Prozent genießt, ist das eine durchaus… mutige Entscheidung. Und man muss sich fragen, ob diese Aufbruchserzählung zumindest handwerklich gut auserwählt (ausgewählt, auserwählt klingt in dem Kontext zu esoterisch) wurde. War der Wahlkampf einer, der von mutigen Ideen und kühnen Visionen lebte?

Wir haben stellenweise schlicht das Handwerk nicht beherrscht

Womit das Stichwort der handwerklichen Fehler gefallen wäre. Sie stellten nicht nur je für sich genommen ein Problem dar, sondern zusammengenommen den erklärten Anspruch der Kampagne (Wir sind bereit) fundamental in Frage.

Augenfällig sind die bekannten Stockfehler von Lebenslauf bis Buchprojekt, die vor allem davon künden, dass es der Annalena-Kampagne an Vorbereitungszeit mangelte und dass im entscheidenden Moment keine leistungsfähigen Strukturen aufgebaut waren, in die die Kandidatin Vertrauen gehabt hätte. Siehe oben zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung.

Auf der anderen Seite hat die Kampagne kaum daran gearbeitet, die Kandidatin als Führungspersönlichkeit zu profilieren. Wir haben erkennbar wenig dafür getan, Annalena als eine Person zu zeigen, die potenziell fähig sein kann, eine Regierung zu führen (Das Übliche: Bilder im Berater*innenkreis, Auslandsbesuche, betont staatstragende Wortbeiträge etc.) – und so die offensichtliche Schwäche der Kandidatin zu kompensieren. Hier fehlt es den GRÜNEN vielleicht an der Erfahrung mit Personenwahlkämpfen: Anstatt die Kandidatin zum Leuchten zu bringen und nach oben zu ziehen, hatte die Kampagne eher den Anspruch, die Kandidatin möge die Kampagne ziehen. Anstatt eine Kampagne von ihren objektiven Stärken und Schwächen her zu planen, wurde sie als Galionsfigur auf eine bestehende Kampagne gesetzt. So machen wir seit jeher Wahlkampf, wo wir sowieso keine Chance auf das Direktmandat oder das Bürgermeister*innenamt zu haben glauben.

Weniger geredet wird über eine schwache Plakatkampagne, die im Kern aus zehn sehr ähnlich aussehenden Themenplakaten mit Texten von hoher Allgemeinheit bestand. Eine politische Botschaft war der Plakatkampagne nicht zu entnehmen und der Kontrast zwischen weißer Schrift und hellem grün war so gering, dass die Plakate aus 50 Metern Entfernung nicht mehr zu lesen waren. Die anfänglich positiven Bewertungen der Plakatlinie haben mich schon damals sehr gewundert.

Zu reden wäre auch über das gedruckte Wahlkampfmaterial für den Einsatz an Ständen und im Haustürwahlkampf. Hier fehlte für mein Empfinden ein klares Konzept, welches Material für welchen konkreten Zweck im Wahlkampf konzipiert ist (mit Ausnahme des Haustürwahlkampfflyers). Ich meine: In welchem konkreten Szenario wird ein Material eingesetzt und welche Botschaft transportiert es? Und was waren eigentlich unsere drei inhaltlichen Kernforderungen, die jede*r am Ende benennen konnte?

Und da war ein erster Werbespot, der im positiven Sinne mutig war im Rückgriff auf nationales Liedgut und dem klaren Willen, Milieugrenzen zu sprengen. Ich mochte diesen Spot. Das Video wirkte aber nicht wie ein Teil der Gesamtkampagne, sondern stand für sich. Ein Entschlüsseln des anspielungsreichen Spots war weder von den Plakaten her möglich noch von den Reden der Kanzlerkandidatin her – sondern vielleicht am ehesten aus den Büchern von Robert Habeck und der Sozialtheorie von Armin Nassehi. Auch hatte der Inhalt des Spots nichts mit dem Wahlkampfclaim zu tun und stand mit diesem in keiner erkennbaren Beziehung. Zu dem Claim „Bereit, weil ihr es seid“ hätte man eine Geschichte von der Staatsparteiwerdung der Grünen und der Grünwerdung der Gesellschaft erzählen können. Auch diese Inkongruenz ist ein echter handwerklicher Fehler.

Was tun?

Wir sollten nicht auf den Gedanken kommen, auf Grund dieses Ergebnisses die Prozesse der thematischen Verbreiterung und der gesellschaftlichen Öffnung zurück abzuwickeln. Wenn nach der Flutkatastrophe in NRW das Klimathema nur für ein Ergebnis von knapp 15 Prozent gereicht hat, ist das der Korridor. Wer Mehrheiten für eine sozial-ökologische Politik gewinnen will, muss breiter ansetzen.

Aber die Kampagnenplanung für die nächste Bundestagswahl muss meiner Meinung nach deutlich früher und mit einer diesmal realistischen Bestandsaufnahme beginnen. Und wir müssen die Fähigkeit entwickeln, bundesweite Kampagnen von Personen her zu entwickeln und konsistent zu führen. Strategisch und strukturell. Dann kann es in vier Jahren anders ausgehen.

Und in der Zwischenzeit: Eine stabile Regierung bilden, gut regieren, das Klima (ein bisschen) retten. Nichts einfacher als das.

Im Lockdown die Offenheit bewahren

Einige Gedanken zu den gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und zur politischen Aufgabe über die akute Nothilfe hinaus.

Corona ist die schwerste öffentliche Gesundheitskrise der vergangenen Jahre. Zugleich ist Corona eine wirtschaftlich und vor allem soziale Krise, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine harte Probe stellt. Viele Institutionen sind beeinträchtigt, die in normalen Zeiten eine offene Gesellschaft zusammen bringen: Dies beginnt bei den demokratischen Institutionen selbst, den Parlamenten und Parteien. Die Absage der großen Parteitage – auch der GRÜNEN in Niedersachsen – und die Ungewissheit, wie der innerparteiliche Willensbildungsprozess in den kommenden Monaten funktionieren wird, sind Beispiele. Noch dramatischer betroffen ist der zivilgesellschaftliche Teil unserer demokratischen Gesellschaft, die Basis des demokratischen Diskurses. Vereine und Gruppen, die ihre Treffen auf das Nötigste reduziert haben, Versammlungen, die nur noch unter Auflagen möglich sind, informelle Treffen in Cafés, auf Partys oder in Kneipen, die derzeit nicht mehr stattfinden können. Es fehlt die Plattform zum Austausch, um Gemeinsamkeit zu stiften, Kontakte zu schaffen, Vereinzelung zu überwinden und Vorurteile abzubauen.

Kulturschaffende, Gastronom*innen, Veranstaltungstechniker*innen, viele soloselbständige Trainer*innen und Dienstleister*innen, Studierende mit Nebenjobs, aber auch ganze Branchen wie Theater, Clubs, Sportstudios, Bars und Restaurants verlieren ihre wirtschaftliche Grundlage. Es vertiefen sich ökonomische Ungleichgewichte zu Lasten von Menschen, die schon außerhalb der Krise oftmals in wirtschaftlich prekären Verhältnissen arbeiten. Für sie existieren derzeit zu wenige maßgeschneiderte Hilfsangebote, weil viele bisherige Unterstützungen vom sogenannten Regelarbeitsverhältnis ausgehen, das aber längst nicht mehr die Regel ist.

Andere werden in der Pandemie besonders gefordert – allen zuvorderst natürlich die Beschäftigen des Gesundheitssystems, aber auch Erzieher*innen, Lehrer*innen, Polizist*innen – aber auch alle, die unter den erschwerten Bedingungen ihrer normalen Arbeit nachgehen, die die zusätzliche Belastung durch Homeoffice und eingeschränkte Kinderbetreuung tragen müssen. Es gibt gesellschaftliche Spätfolgen der Pandemie, die bereits jetzt absehbar sind, wie vor allem der emanzipatorische Rückschritt, dass Frauen im Lockdown wieder viel stärker in traditionelle Rollenbilder gedrängt werden, zusätzlich Care- und Familienarbeit übernehmen und dadurch die Errungenschaften vergangener Jahre verloren gehen.

All’ diese kleinen und großen, teilweise kaum zu verhindernden Ungerechtigkeiten setzen unsere Gesellschaft einem beträchtlichen Stress aus. Die Aufgabe der Politik in dieser Zeit ist zuvorderst der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung durch Maßnahmen, die insgesamt verhältnismäßig und rechtsstaatlich vertretbar sind. Es ist aber auch die Aufgabe von Politik, jenseits der wirtschaftlichen Entwicklung an das Überleben einer offenen Gesellschaft in einer vielleicht zweijährigen Zeit der Pandemie zu denken. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich bestehende Gräben vertiefen, dass die Akzeptanz schwindet und jene Oberwasser bekommen, die eine andere, weniger liberale Gesellschaft wollen. Wir müssen im Lockdown die Offenheit bewahren.

Kein Freibrief für die Exekutive – eine Perspektive für die Gesellschaft

Die Corona-Krise ist eine Zumutung für Demokrat*innen, weil sie die gewohnten demokratischen Abläufe und Rituale durcheinander wirbelt und teilweise unmöglich macht. Sie ist aber noch keine Krise der Demokratie. Das zeigt sich in der funktionierenden Kontrolle durch unabhängige Gerichte, in einer kritischen Presselandschaft und letztlich auch darin, dass die Parlamente deutlich und erfolgreich ihre Beteiligung einfordern.

Die Krise ist die Stunde der Exekutive – aber sie ist kein Freibrief. Eine parlamentarische Debatte und eine offene Kommunikation in der Öffentlichkeit zwingt die Regierung, die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Einzelnen nachvollziehbar zu begründen – und eine schlüssige Begründung ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass sie von Öffentlichkeit und Gerichten (!) als verhältnismäßig beurteilt werden. Neben einer nachvollziehbaren Begründung ihres Handelns gegenüber Parlament und Öffentlichkeit muss die Landesregierung den kommunalen Gesundheits- und Ordnungsämtern, der Polizei, den Schulen und Kindergärten klare Handreichungen für den Winter geben geben – zum Beispiel bei der Umsetzung der Quarantäneanordnungen und Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung oder für den sicheren Unterrichts im Winter. Denn auch eine einheitliche und nachvollziehbare Umsetzung der Maßnahmen ist wesentliche Voraussetzung für ihre Akzeptanz.

In der wirtschaftlichen und sozialen Krise müssen wir politisch jene in den Blick nehmen, die in dieser Situation besonders verwundbar sind. Dies wäre der Zeitpunkt, um endlich über eine bedarfsgerechte Finanzierung von Frauenhäusern zu sprechen. Dies wäre der Zeitpunkt, einen Umgang mit dem verlorenen Schuljahr 2020/21 zu finden, unter dem nicht die Kinder in bildungsfernen Elternhäusern besonders leiden. Dies wäre der Zeitpunkt, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem und in der Pflege zu verbessern und systematischen Fehlentwicklungen zu begegnen.

Zugleich haben wir einen dringenden Bedarf an neuen Formen des Diskurses und des Austausches in Politik und Gesellschaft und an Formaten, die entlasten, Gemeinschaft stiften und Zusammenhalt verbessern. Wir brauchen eine Perspektive für die Zivilgesellschaft. Dies wäre die Zeit, um vielen Kulturschaffenden und Kreativen, selbstständigen Kommunikationexpert*innen die Möglichkeit einzuladen an neuen Formaten des Austausches zu arbeiten, neue Formen der kulturellen Bereicherung unseres Alltages zu finden und Debattenräume zu eröffnen. Ich bin ausdrücklich dafür, dass wir ihnen ein Angebot jenseits von HartzIV machen – aber nicht als „bedingungsloses Einkommen“, sondern als öffentliches Stipendium. Wir könnten damit damit die kulturellen und kommunikativen Errungenschaften aus dem ersten Lockdown wiederbeleben – nur dieses mal mit einem fairen Lohn.

Und ja, um dies alles zu finanzieren, wird man nach der Krise über einen fairen Lastenausgleich sprechen müssen. So viel Mut muss sein.

Auf der Suche nach Lösungen

Die neue Rolle der GRÜNEN im Parteiensystems

Ich beschäftige mich mit dem aktuellen Höhenflug der GRÜNEN und denke darüber nach, welche veränderte Rolle auf die Partei zukommt. Der Text soll auch ein kleiner Beitrag zur Debatte im Vorfeld der Landesdelegiertenkonferenz der Niedersächsischen GRÜNEN in Celle (27.-28.10.18)sein. Der Text ist in relativ kurzer Zeit entstanden – daher der etwas essayistische Stil.

1. Im Herzen der Gesellschaft angekommen

Siebzehnkommafünf Prozent bei den Landtagswahlen in Bayern. Zweiundzwanzig Prozent in manchen Umfragen zur hessischen Landtagswahl. Zweitstärkste Kraft mit um die zwanzig Prozent bei Umfragen im Bund. Siebenundvierzig Prozent der Wählerinnen und Wähler, die sich vorstellen können, die GRÜNEN zu wählen, meldet der SPIEGEL. Beteiligt an neun Landesregierungen in unterschiedlichsten Koalitionsmodellen. Hohe Zustimmungswerte zu GRÜNEN Positionen bei Landwirtschaft und Verbraucherschutz, dem Umgang mit dem Diesel-Skandal (!), bei Emanzipation und Gleichstellung, bei der Notwendigkeit sozialen Ausgleichs und so weiter und so weiter, melden die verschiedensten Umfragen.

Es lässt sich nicht leugnen, dass sich die politische Rolle der GRÜNEN seit dem Ende der rot-grünen Bundesregierung 2005 erheblich verändert hat. Die Koch-Kellner-Metapher eines Gerhard Schröder 1998 ist nur noch eine dunkle Erinnerung. Inzwischen sind die GRÜNEN rein faktisch eine eigenständige Kraft, die Regierungsverantwortung in verschiedenen Konstellationen übernimmt – und damit keineswegs schlecht fährt.

Ebenso interessant sind die Umfragen, die belegen, dass GRÜNE Ideale – von der Nachhaltigkeit bis zur vollen Gleichstellung Homosexueller – inzwischen gesellschaftlicher Mainstream sind. Die Zustimmung ist zwar oftmals abstrakt und verschwindet gelegentlich, wenn die Windräder in der Nähe des eigenen Hauses gebaut werden sollen. Trotzdem ist sie da.

Die GRÜNEN sind einmal als Protestpartei gestartet, die gegen breite gesellschaftliche Mehrheiten notwendige Veränderungen politisch durchkämpfen wollten – und durchgekämpft haben. Heute werden viele GRÜNE Ideale von breiten Mehrheiten geteilt. Die neuen gesellschaftlichen Bewegungen, aus denen die Partei hervorgegangen ist, sind im Herzen der Gesellschaft angekommen – und mit ihnen die GRÜNEN.

2. Das Ende des Modells „Volkspartei“

Zugleich ist die Rede von einer neuen GRÜNEN Volkspartei ziemlicher Unsinn – außer vielleicht in Baden-Württemberg. Zwanzig Prozent reichen schon allein numerisch nicht für dieses Prädikat. Vor allem aber ist das politische Modell „Volkspartei“ für die GRÜNEN insgesamt eher ungeeignet – und es ist ein Modell mit rapide schwindender Bedeutung.

Der Niedergang der SPD, die in aktuellen Umfragen nur noch noch viertstärkste Partei im Bund ist, sowie der CDU, die zum Ende der Ära Merkel zunehmend ihre Hegemoniefähigkeit verliert, sind teilweise bedingt durch eigenes Fehlverhalten – Stichwort Causa Maaßen. Es ist aber augenscheinlich, dass es tieferliegende gesellschaftliche Ursachen gibt.

Das Modell „Volkspartei“ hat seine Wurzeln in einer relativ homogenen Nachkriegsgesellschaft, in der es möglich war, breite gesellschaftliche Strömungen anhand zweier dominierender Erzählungen zu sammeln: Einer konservativ-christlichen und einer progressiv-sozialdemokratischen. Die großen gesellschaftlichen Widersprüche ließen sich ebenfalls anhand dieser Narrative ausbuchstabieren: Westbindung und neue Ostpolitik, Wirtschaftswunder und beginnende Massenarbeitslosigkeit und dahinter – nicht zuletzt – der gute alte „Hauptwiderspruch“ zwischen arbeitender und besitzender Klasse. Die Leistung der Volksparteien bestand darin, diese politischen Konflikte zu kanalisieren und zu zivilisieren.

Die Methode zur Bindung gesellschaftlicher Konflikte bestand auch darin, die Konflikte innerhalb des eigenen Elektorats weitgehend abzumoderieren und in den Schatten der übergreifenden Konflikte zu stellen. Schon die Mischung der CDU aus konservativ, wirtschaftsliberal und christlich-sozial passt nicht ohne erhebliche Spannungen zusammen. Auch innerhalb der SPD existieren ähnliche Konflikte zwischen klassischer (Industrie-)ArbeiterInnenschaft, prekarisierten/marginalisierten Gruppen und einer emanzipatorischen Avantgarde. Der Begriff „Volkspartei“ suggeriert eine Homogenität, die es zunehmend weniger gibt. Das Konsensmodell der Volksparteien ist eine Mischung aus „kleinstem gemeinsamen Nenner“ und dem „äußeren Gegner“. Angela Merkel war die letzte Großmeisterin dieses Konsensmodells, ihr „äußerer Gegner“ die unsichere Welt der Globalisierung.

Die Krise der Volksparteien lässt sich sehr gut damit erklären, dass dieses Modell nicht mehr funktioniert. Einerseits fehlen die großen politischen Konfrontationen der Nachkriegszeit. Sie wurden ersetzt durch den neuen (Vielleicht: „Haupt-„) „Widerspruch“ zwischen den VerteidigerInnen der offenen Gesellschaft und ihren FeindInnen, bei dem die Konfliktlinien mitten durch die „Volksparteien“ verlaufen. Im Fall von Angela Merkel bedeutete das, dass zuerst in der Banken und zuletzt in der Flucht-Krise deutlich wurde, wie zerbrechliche ihre Erzählung ist, das Land vor den Stürmen der internationalen Entwicklungen schützen zu können.

Zugleich hat sich die Zahl der gesellschaftlichen Konflikte vervielfacht und sind die Konfliktlinien zunehmend unübersichtlich geworden. Konflikte bestehen heute nicht nur zwischen Besitzenden und Arbeitenden. Sie bestehen auch zwischen etablierten Industrieunternehmen und jungen Start-Ups, zwischen FacharbeiterInnen der Stammbelegschaft, LeiharbeiterInnen und Freiberuflichen, zwischen Arbeitenden in der Industrie und DienstleisterInnen. Konflikte bestehen zwischen Stadtbevölkerung und Landbevölkerung – genauer zwischen Stadtbevölkerung, Vorstadtbevölkerung und Landbevölkerung, was in der Mobilitätsfrage besonders deutlich wird. Konflikte bestehen zwischen dieser und kommenden Generationen – Stichwort Rente und Ökologie. Konflikte bestehen zwischen gut Ausgebildeten, im internationalen Wettbewerb Konkurrenzfähigen, und weniger gut Ausgebildeten. Konflikte bestehen zwischen einer digitalen Avantgarde und jenen, deren ökonomische und soziale Existenz durch die Digitalisierung in Frage gestellt wird. Sie bestehen zwischen jenen, die mit allen Möglichkeiten und Chancen zur Welt gekommen sind und jenen, die nur Schulden geerbt haben. Konflikte bestehen leider immer noch zwischen den Geschlechtern. Zwischen Zugewanderten und Alteingesessenen. Und so weiter. Und so weiter.

Und das Entscheidende: Diese Konflikte und objektiven Probleme lassen sich nicht auf dem alten Weg über Formelkompromisse und eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners befrieden. Dafür sind sie zu vielfältig und gleichzeitig zu tiefgreifend.

3. Die Neue Rolle der GRÜNEN – Veränderungswillen und Kompromissfähigkeit

Was ist in dieser neuen gesellschaftlichen Situation die Rolle der GRÜNEN? Genauer: Was könnte sie sein? Denn noch sind die Umfragewerte und Wahlergebnisse für die Partei vor allem Hoffnungswerte.

Die GRÜNEN sind eine widersprüchliche Partei, selbst ein Kind der neuen Wirklichkeit. Sie sind das Produkt vieler gesellschaftlicher Bewegungen: Ökologiebewegung, Friedensbewegung, Frauenbewegung, „neue Linke“ etc. Die Stärke der GRÜNEN besteht seit jeher darin, dass sie durch ihre Wurzeln in den sozialen Bewegungen bestehende Konflikte und Probleme in aller Schärfe benennen können. Sie haben weniger den Hang zum Aussitzen, Abmoderieren und Verschweigen, der die Politik von SPD und CDU stellenweise kennzeichnet. Die Fähigkeit zum Zuspitzen und zum Konflikt ist in dieser Situation eine Stärke der GRÜNEN.

Zugleich haben sie sich in Jahren der innerparteilichen Konflikte auch eine Fähigkeit erarbeitet, die mindestens ebenso wichtig ist. Diese Fähigkeit wird deutlich, wenn man das harte Ringen der Jamaika-Verhandlungen mit vielen schmerzhaften aber inhaltlich tragfähigen (!) Kompromissen betrachtet. Es ist richtig, dass viele Menschen die ewige Friedhofsruhe in der Politik satt haben. Ein Streit um des Kaisers Bart ohne Ziel und Ergebnis, Konflikt um des Konfliktes Willen, eine Politik des Nullsummenspiels wird allerdings ebenso wenig honoriert. Zu benennen, was falsch läuft, ohne eine Idee davon zu entwickeln, wie es besser laufen könnte, ist der Weg einer Protestpartei. Die Kunst besteht vielmehr darin, ernsthaft in der Sache zu ringen und zu allseitig tragfähigen Lösungen zu kommen. Ein gutes Beispiel dafür war das grüne Auftreten bei den Jamaika-Sondierungen – oder in der Landesregierung in Schleswig-Holstein.

Das Angebot der GRÜNEN könnte darin bestehen, die tatsächlichen gesellschaftlichen Konflikte ernsthaft zu bearbeiten und an der Sache orientierte, faire und tragfähige Lösungen zu suchen. Das wird niemals für vierzig Prozent reichen. Zum Glück nicht. Aber es könnte dazu beitragen, das politische System zu stabilisieren und in Zeiten einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft arbeitsfähig zu halten.

Raus aus der Nische!

Zur Landesdelegiertenkonferenz der GRÜNEN in Niedersachsen am 10./11. März habe ich diesen Antrag unter dem Tagesordnungspunkt „Grüner Aufbruch“ gestellt. Er ist im Zuge einer „modifizierten Übernahme“ in den Hauptantrag des Landesvorstands einflossen.

Aufbruch für GRÜNE Politik in Niedersachsen

In den Landtagswahlen 2017 sind wir als GRÜNE in Niedersachsen deutlich unter unseren Möglichkeiten geblieben. Anders als den GRÜNEN zum Beispiel in Schleswig-Holstein ist es uns nicht gelungen, bei dieser Wahl auf dem Wahlerfolg von 2013 aufzubauen. Dies dürfen wir nicht nur äußeren Umständen, unseren Strukturen oder gar einzelnen Personen anlasten. Nach der Wahl von 2017 müssen wir uns auch fragen, ob wir als GRÜNE in Niedersachsen den aktuellen politischen Herausforderung gerecht geworden sind.

Die Rolle der GRÜNEN hat sich in der Zeit seit den Wahlerfolgen von 2013 stark verändert. In einem instabilen Parteiensystem mit schwindenden „Volksparteien“ und mit Wahlergebnissen deutlich jenseits der 10 Prozent sind wir nicht länger bloß Anwältin bestimmter Themen und Vertreterin bestimmter Bewegungen. Wir tragen heute Mitverantwortung für die Gesellschaft als Ganzes und ihre Zukunftsfähigkeit.

In Niedersachsen haben wir GRÜNE diese neue Rolle in den letzten Jahren nicht immer angenommen. Wir haben uns weiter als Teil eines politischen Lagers gesehen, das im Wesentlichen von einer schwindenden SPD getragen wird. Wir haben uns in der Außendarstellung auf unsere traditionellen Themen konzentriert – und Viele frustriert, die unsere Antworten auf andere Fragen hören wollten. KritikerInnen sind wir oft mit erhobenem Zeigefinger und verschränkten Armen begegnet. So haben wir auch jene abgeschreckt, die uns eigentlich wohl gesonnen sind.

Wenn wir den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden wollen, müssen wir raus aus dieser Nische!

Eine neue GRÜNE Eigenständigkeit

Wir GRÜNE werden gebraucht – weil Rechtspopulisten und Rechtsextreme die Axt an die Wurzel des gesellschaftlichen Zusammenhalts legen, weil wieder gegen Minderheiten und Andersdenkende, gegen Presse und Justiz gehetzt wird, weil weite Teile der Politik die Augen vor dem Klimawandel und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich verschließen, weil die europäische Integration nicht mehr unumkehrbar scheint. Beide früheren Volksparteien sind tief verunsichert vom Wegfall traditioneller Milieus und der Konkurrenz von ganz links und extrem rechts. Wir können uns nicht länger darauf verlassen, dass Sozialdemokraten und Christdemokraten die Gesellschaft zusammenhalten und ihre drängendsten Probleme zu lösen. Sie befinden sich in einer existenzbedrohenden Krise und haben nicht mehr die Kraft dazu.

Deshalb werden wir GRÜNE nicht nur als einzige konsequent ökologische Kraft gebraucht, nicht nur als kritisch mahnende Stimme und nicht nur als Partei für die vergessenen aber wichtigen Themen.Von einer Themen- und Bewegungspartei innerhalb eines fest gefügten Lagers müssen wir zu einer Partei werden, die auch nach außen hin einen eigenständigen politischen Entwurf verkörpert.

In Regierung wie Opposition müssen wir alte Beißhemmungen ebenso abbauen wie alte Beißreflexe. Unser politisches Lager muss das Lager der DemokratInnen sein. Wir sind nicht Mehrheitsbeschafferin einer anderen Partei, sondern haben in jeder Koalition den Anspruch, inhaltlicher Motor zu sein und die Regierungspolitik insgesamt mitzubestimmen. Als Opposition wollen wir nicht nur den Finger in die Wunde legen, sondern der Politik der Koalition eigene Konzepte entgegenstellen.

Mut zur Verantwortung in allen Politikbereichen

In den letzten Wahlen haben wir uns vor allem als ökologische Kraft positioniert. Unsere Schwerpunkte waren Tier-, Natur- und Klimaschutz. Diese Themen sind und bleiben im Kern unserer politischen Identität. Die Krise der früheren „Volksparteien“ bedeutet aber: Wir können uns auch nach außen hin nicht auf unsere angestammte Rolle der „Öko-Partei“ zurückziehen.

Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch mit seiner Würde und seiner Freiheit. So beginnt unser aktuell gültiges Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2002. Wir GRÜNE müssen auf allen Politikfeldern unseren Teil der Verantwortung für eine offene, gerechte und vielfältige Gesellschaft tragen. Als linke und liberale Kraft suchen wir nach Wegen, unseren wirtschaftlichen Wohlstand angesichts der ökologischen und sozialen Herausforderungen zu erhalten. Als Partei des Rechtsstaats wollen wir Sicherheit schaffen, ohne bürgerliche Freiheitsrechte in Frage zu stellen.

Das bedeutet aber auch: Wir können die für uns schwierigen Themen nicht anderen überlassen. Und wir dürfen nicht nur radikale Forderungen aufstellen, sondern auch zu fairen Kompromisse bereit sein, wo unsere politischen Ziele die legitimen Interessen Einzelner berühren.

Für eine Politik der ausgestreckten Hand

Wir haben in den Jahren nach unserer Gründung schwere Kämpfe ausgefochten – gegen die Atomkraft, gegen einen autoritären Obrigkeitsstaat, gegen Industrieinteressen, gegen das Patriarchat. Wir haben diese Gesellschaft verändert, sie offener, gleichberechtigter und nachhaltiger gemacht. Heute kämpfen wir nicht mehr aus der Position des “Underdogs” um die Veränderung eines erstarrten Systems. Wir ringen heute mitten in der Gesellschaft um Mehrheiten für eine ökologische, soziale und weltoffene Politik. Statt auf eine Politik der verschränkten Arme müssen wir darum auf eine Politik der ausgestreckten Hand setzen.

Aus früheren GegnerInnen sind potenzielle Verbündete geworden. Viele UnternehmerInnen haben ihre ökologische Verantwortung angenommen und nutzen das Potenzial der sozialen Markwirtschaft für eine nachhaltige Ökonomie. Viele PolizistInnen teilen unser Verständnis eines liberalen Rechtsstaats und einer freien und offenen Gesellschaft. Viele – auch konventionell arbeitende – Landwirtinnen und Landwirte verstehen den Wert einer Landwirtschaft mit Rücksicht auf Tier und Umwelt. Sie sind PartnerInnen für unsere Politik und mit ihrem Praxiswissen ein wichtiger Realitätscheck für unser Programm.

Auch mit jenen, die unserer Politik kritisch gegenüber stehen, müssen wir wir den Dialog führen. Eine Politik der ausgestreckten Hand bedeutet nicht, Konflikten auszuweichen. Sie bedeutet, Konflikte auf Augenhöhe zu führen. Wir nehmen die Positionen und legitimen Interessen unserer KritikerInnen ernst und suchen einen Ausgleich mit den Erfordernissen einer ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltigen Politik. Das unterscheidet uns von jenen PopulistInnen, die die Gesellschaft in Verbündete und Feinde, in „wir“ und „die“ spalten, die seit jeher Feindbilder nutzen, um ihre eigenen Reihen zu schließen und AnhängerInnen zu gewinnen.

Darum müssen wir manche lieb gewonnene Vorurteile und Glaubenssätze hinterfragen. Wir brauchen Institutionen wie Unternehmensgrün und Polizeigrün auch in Niedersachsen. Und wir brauchen Formate „GRÜN im Dialog“ für den Austausch mit der uns gegenüber kritischen Wissenschaft und Fachöffentlichkeit. Vor allem aber brauchen wir eine aufrichtige Haltung der Dialogbereitschaft auf allen Ebenen unserer Politik.

Raus aus der Nische!

Wir GRÜNE in Niedersachsen wollen uns mit dieser Landesdelegiertenkonferenz politisch und programmatisch neu aufstellen. In den kommenden Jahren wollen wir mit engagierter und konstruktiver Oppositionsarbeit auf allen Feldern eine Alternative zur großkoalitionären Politik der Verunsicherung bieten. Dabei beanspruchen wir eine neue Rolle als selbstständige, kompromiss- und dialogbereite Kraft, ohne unseren Anspruch einer konsequent ökologischen, sozialen und liberalen Politik in Frage zu stellen.

Begründung:

Erfolgt mündlich.