Es gibt ein Führungsproblem

Mein Hot-Take zu NRW: Das jüngst aufgeflogene rechtsextreme Chat-Netzwerk in der Polizei ist auch Folge eines jahrelangen politischen Führungsversagens.

Rechtsextreme Netzwerke in der Polizei

In Nordrhein-Westfalen sind mehrere Chatgruppen innerhalb der Polizei aufgeflogen, in rechtsextreme Inhalte geteilt wurden. Es geht um 29 Polizisten, von denen 11 selbst solche Inhalte geteilt haben. Der Skandal wird dadurch noch größer, dass er durch Zufall aufgeflogen ist. In einem anderen Verfahren wegen Geheimnisverrats wurde das Handy eines Beteiligten beschlagnahmt. Es war nicht etwa so, dass einer der 18 „stummen“ Beteiligten an eine*n Vorgesetzte*n herangetreten wäre oder gar pflichtgemäß eine Anzeige geschrieben hätte.

Von Einzelfällen kann niemand mehr reden. Ähnliche Vorfälle hatte es bereits in Hessen, Baden-Württemberg und Bayern gegeben. Man muss in diesem Kontext auch daran erinnern, dass den rechtsextremen Drohmails, die mit NSU 2.0 unterschrieben waren, anscheinend Adressabfragen von Polizeicomputern vorausgingen. Am Ende steht ein erschreckendes Bild: Es gibt in der Polizei rechtsextreme Einstellungen, bei denen es sich um weit mehr handelt als um Einzelfälle. Niemand kann derzeit sagen, ob es „nur“ um eine Häufung von Einzelpersonen geht, um verfasste Netzwerke oder – unwahrscheinlich – um organisierte Strukturen.

Selbstverständlich braucht es jetzt eine vollständige und rückhaltlose Aufklärung – einschließlich eines wissenschaftlichen Lagebildes über das gesamte Ausmaß des Problems „Rassismus“ in der Polizei. Aber zum jetzigen Punkt muss man auch fragen: Was ist eigentlich jahrelang schief gelaufen?

Führungsversagen: Der Fisch stinkt vom Kopf

Bei rassistischen Vorfällen waren die Rezepte der letzten Jahrzehnt immer: Mehr politische Bildung, mehr interkulturelle Schulungen und mehr Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund. Das ist ausdrücklich zu begrüßen! Mit diesen Maßnahmen rechtsextreme Weltbilder aufzulösen oder demokratieverachtende Strukturen zu zerschlagen, ist aber eine naive Hoffnung.

Eine Haltung der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Courage müsste zuallererst in der in der politischen Spitze vorgelebt werden. Und gerade hier gibt es seit Jahr und Tag ein eklatantes Führungsversagen. Die Stellungnahme des NRW-Innenministers Reul auf tagesschau.de ist so ehrlich wie vielsagend: „Ich habe zunächst nicht glauben wollen, dass es sowas gibt.“ Man stelle sich vor, er wäre nicht mit unumstößlichen Sachbeweisen konfrontiert worden, sondern nur mit der Aussage einer Polizistin, die von ihren Vorgesetzten als Querulantin betrachtet wird. Wäre Reul ihr nachgegangen?

Vor allem Unions-Innenminister (aber nicht nur sie) betrachten rechtsstaatliches Vorgehen und couragierte Haltung bei Polizist*innen als etwas Selbstverständliches. Und auch wenn sie bei der überwältigenden Mehrzahl der Beamt*innen sicher vorhanden sind: Selbstverständlich sind sie keineswegs. Es ist leicht zu verstehen, dass Polizist*innen von den vielen Einschränkungen des liberalen Rechtsstaats auf Dauer frustriert sein können – zumal wenn Überlastung, mangelhafte Ausrüstung und Kritik von außen hinzukommen. Und es ist noch leichter zu verstehen, dass die Courage zur notwendigen Anzeige gegen eine*n straffällige*n Kolleg*in nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Polizist*innen haben einen extrem fordernden Arbeitsalltag, sind in einzigartigerweise mit den sozialen Problemen der Gesellschaft konfrontiert oder geraten häufig in Konfliktsituationen, in denen sie selbst von einer neutralen Partei zum Ziel der Aggression werden können. Es wäre ein Wunder, wenn es hier keine Phänomene aus der Kategorie Freund-Feind-Denken gäbe. Eigentlich wäre also ein offener und ehrlicher Umgang mit dem Thema, Transparenz und Fehlerkultur angesagt.

Unvergessen ist aber die Begründung des Bundesinnenministers, warum es keine Studie zu Racial Profiling brauche: Es sei schließlich verboten, komme also nicht vor. (Ähnlich auch Reul.) Man denke auch – in einem zugegeben anderen Zusammenhang – an Olaf „Polizeigewalt hat es [bei G20] nicht gegeben“ Scholz. Solche Haltungen wie sind nicht nur unverschämt gegenüber Betroffenen, sie sind wesentlicher Teil des Problems. Warum sollten unmittelbare Vorgesetzte oder Kolleg*innen irgend gegen Entgleisungen tun, wenn nicht einmal die politische Spitze willens ist, zu sehen und einzuschreiten?

Der Fokus etwa der Strafverfolgung ist oft die sichtbare Kleinkriminalität auf den Straßen – im Extremfall zur „Klankriminalität“ hochstilisiert, die von den Fallzahlen her allenfalls eine Randnotiz ist. Lässt sich halt in den Medien besser verkaufen als langwierige Ermittlungen in Wirtschaftsstrafsachen, die von der Schadenssumme her ein Vielfaches umfassen. Zu doof, dass Kleinkriminelle oft „ausländisch klingende Nachnamen“ haben.

Ohne einen Kulturwechsel vor allem in der (politischen) Polizeiführung bleiben darum alle Einzelmaßnahmen, die jetzt vielleicht ergriffen werden, trauriges Stückwerk. Eine Garantie für einen Kulturwandel in der gesamt Organisation ist das natürlich nicht – aber eine notwendige Voraussetzung. Dies ist für mich ein Grund, warum auch GRÜNE anfangen sollten, Innenministerien zu führen. Sie müssen zeigen, wie es anders gehen kann.

Eine andere Innenpolitik

Zunächst das Naheliegende: Innenpolitik muss strukturelle Probleme in der Polizei analysieren und bekämpfen – zu allererst die chronische Überlastung vieler Beamt*innen. Und da dem Einstellen zusätzlicher Kräfte naturgemäß Grenzen gesetzt sind – Stichworte Haushaltsdisziplin und fehlende Bewerber*innen -, muss man auch überlegen, was in Zukunft vielleicht weniger oder anders getan werden kann. Strukturelle Fragen wären auch, ob man nicht z.B. durch Rotationsregelungen verhindern muss, dass dieselben Beamt*innen jahrelang in denselben Kriminalitätsschwerpunkten Dienst tun müssen, wie das wohl in Frankfurt der Fall war. Hier gibt es sicher bereits lange Listen.

Ein Kulturwechsel in der Polizeiführung müsste aber weiter gehen. Es wäre zu wünschen, dass Innenminister*innen den liberalen Rechtsstaat nicht nur als lästiges Hindernis betrachten. Konkret hieße das zum Beispiel, nicht mit jeder Neuauflage des Polizeigesetzes und anderer Sicherheitsgesetze bis an die Schmerzgrenze der Verfassungsgerichte die Grenzen des Rechtsstaatlichkeit maximal auszudehnen. Man kann durchaus – wenn man nachvollziehbar der Ansicht ist, eine Fähigkeit zur Online-Durchsuchung zu brauchen – einen Richtervorbehalt und die Beschränkung auf schwere Straftaten in den Gesetzesentwurf schreiben. Wirklich, das geht.

Die Polizei ist eben nicht „Kriegspartei“ in einem täglichen Kampf um die Hoheit auf unseren Straßen. Ihr Aufgabe ist der Schutz des Rechts und der Schutz der Rechte aller Einwohner*innen. Diese Haltung zu transportieren – auch wenn man dann nicht als „harter Hund“ Punkte bei der BILD-Zeitung machen kann – wäre zuvorderst Aufgabe der Minister*innen.

Und gerade den Beamt*innen, die sich innerhalb der Polizei für gegen rechtsextreme Tendenzen engagieren, schuldet ein*e Innenminister*in, selbst nicht wegzusehen – auch ohne einen Medienskandal im Nacken. Solchen Polizist*innen kann durch Strukturen der Rücken gestärkt werden, die außerhalb der Hierarchie stehen und zur Not auch anonym ansprechbar sind – beispielsweise ein*e parlamentarische*r Polizeibeauftragte*r. Aber nur die Vorgesetzten vom MI abwärts können disziplinarisch gegen Übertretungen vorgehen – und müssen es auch tun, bevor es einen Medienskandal gibt. Es liegt an ihnen.

Heute ist kein Tag der Trauer.

Eine Wutrede

Nein. Heute ist kein Tag der Trauer. Wir sind zu betroffen, um „betroffen“ zu sein. Trauer, Anteilnahme – das passt zu tragischen Unglücken. Der Anschlag von Hanau aber war nicht tragisch – er war verbrecherisch.

Der Anschlag von Hanau war rassistischer, rechtsextremer Terror. Wer spricht noch von „anscheinend“ und von „mutmaßlich“? Es war in Terroranschlag in einer Reihe von Terroranschlägen.

Was nutzt es den Angehörigen der Opfer, wenn unsere Gedanken und Gebete bei ihnen sind? Was nutzt es den zukünftigen Opfern, wenn wir heute für eine Minute schweigen? Nein, die Tage der Demonstrationen, Mahnwachen und Lichterketten sind vorüber. Heute ist nicht der Tag, um weitere Zeichen zu setzen gegen Rassismus, Hass und Gewalt. Wir brauchen keine weiteren Spendenaktionen und keine weiteren Benefizkonzerte. Wir brauchen keine Reden von Frank-Walter Steinmeier mehr, an denen jedes Wort richtig ist und die doch folgenlos bleiben. Keine Appelle an eine wache Zivilgesellschaft, der die Mittel fehlen gegen Faschisten mit Pistolen und Gewehren. Wie viele Einzeltäter braucht es, bis niemand mehr den Mut hat, das Muster dahinter zu benennen?

Wie wehrhaft ist unsere Demokratie?

Wie wehrhaft ist denn unsere Demokratie, wenn der Staat nicht einmal jetzt den Kampf aufnimmt? Es ist an der Zeit, das Grundgesetz zu verteidigen – jene Menschen zu verteidigen, deren Würde zu schützen das Ziel aller staatlichen Gewalt sein soll. Das kann niemand anderes leisten als jener Staat, der zu Recht das Gewaltmonopol innehat.

Es ist Zeit für den ganzen kalten, berechnenden Zorn des demokratischen Rechtsstaats. Es ist Zeit für Gesetzesverschärfungen, für Schwerpunktstaatsanwaltschaften, für Sonderkommissionen – für das ganze Instrumentarium, das längst im Einsatz wäre, wäre der Kassler Regierungspräsident Walter Lübcke im Juni 2019 von einem Islamisten ermordet worden!

Wo bleiben die Gesetze, die Gewaltaufrufen und Hassrede Einhalt gebieten? Wo ist der Innenminister, der den Kampf gegen den kriminellen Rechtsextremismus zu seinem Thema macht? Wo ist die Polizeieinheit, die Nazidemonstrationen auflöst und jene in Gewahrsam nimmt, die offen den Hitlergruß zeigen?

Warum können einige (wenige) Leute Beamte bleiben, die schon auf Artikel 1 des Grundgesetzes nicht geloben können, ohne zu lügen, die gerichtsfest Faschisten genannt werden können? Warum können manche von ihnen Recht sprechen, Waffen und Uniform tragen? Wo sind die Verfahren wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung mit anschließender Entlassung aus dem Staatsdienst?

Warum wird nicht längst ein Parteiverbot zumindest für Teile der AfD diskutiert? Wo ist eigentlich der Verfassungsschutz? Ist nicht das, was in einigen Teilen Thüringens, Sachsens geschieht genau das Szenario, für das das Parteiverbot geschaffen wurde?

Und wo bleibt eigentlich das Demokratieförderungsgesetz, das die so wichtige zivilgesellschaftliche Arbeit gegen den Rechtsextremismus endlich auf eine verlässliche Finanzierungsbasis stellt?

Es ist ein Tag der Wut

Vielleicht übertreibe ich. Aus mir spricht die Wut. Aber es ist ein Tag, um wütend zu sein. Es ist die Wut darüber, dass so schrecklich wenig passiert und wir immer wieder traurig und betroffen sein müssen.

Schatten und Licht

Das Wahlergebnis der AFD ist auch eine Chance für die demokratischen Parteien

Um den Titel nicht falsch zu verstehen: Es ist eine schreckliche Entwicklung, dass nun erstmals seit der Nachkriegszeit wieder eine offen rechtsextreme und in Teilen neonazistische Partei im deutschen Bundestag sitzt. Die Bernd-Höcke-Partei hat nun Zugang zu Ressourcen und Informationen, dass es einen schaudern lässt. Vor allem aber hat sie die optimale Plattform, um ihr menschenverachtendes Gedankengut weiter zu verbreiten. Darum wäre es besser, wenn das Land anders abgestimmt hätte.

Aber: Jammern hilft nix – und die Suche nach der einer Seite hilft auch, die eigene Aufgabe klarer zu erfassen. Es ist ja nicht so, als ob das nationale und rassistische Gedankengut erst mit der AFD in die Welt gekommen wäre. Die wissenschaftlich Einstellungsforschung dokumentiert seit vielen Jahren in den so genannten Mitte-Studien, dass bis zu 20 Prozent der Bevölkerung offen sind für bestimmte Thesen aus der rechtsextremen Denkwelt. Vor allem Ausländerfeindlichkeit und National-Chauvinismus waren und sind nach diesen Untersuchungen „schon immer“ bis weit in die „politische Mitte“ hinein verbreitet. Jetzt hat dieses Potenzial eine eigene politische Partei und wird erstmals in seiner ganzen Breite sichtbar.

Das Sichtbarwerden des vormals Unsichtbaren erlaubt eine andere Qualität der öffentlichen Auseinandersetzung. Es zwingt dazu, den Parolen der Rechtsextremen die eigene Version einer liberaleren und offeneren Gesellschaft entgegenzusetzen. Man kann jetzt nicht mehr so tun, als gäbe es diese Einstellungen nicht oder als würden sie nur von einer verschwindend kleinen Minderheit geteilt. Diese Gesellschaft hat ein Rassismus-Problem – und sie hat es nicht erst seit dem 25.9.2017.

Zweitens zwingen die neuen Rechtsextremen die Parteien auch zur Auseinandersetzung mit rechtsextremen Gedankengut nach innen. Man wird in Zukunft am Grad der Zustimmung der AFD sehr leicht ablesen können, wann eine Partei den Boden des demokratischen Konsenses verlässt. Sahra Wagenknecht konnte dies schon einmal am eigenen Leib erfahren. Die AFD ist geeignet, den anderen Parteien den Zerrspiegel der eigenen Intoleranz vorzuhalten.

Dies gilt, wenn es gelingt, das völkische und nationalistische Gedankengut der AFD öffentlich zu dekonstruieren und sich klar davon abzugrenzen. Leider scheint die Reise – insbesondere in der CSU – derzeit eher in einer andere Richtung zu gehen. Im Gegensatz zu den Glaubenssätzen mancher in der CDU/CSU wird es kaum gelingen, relevante Teile der WählerInnenschaft vom rechten Rand zurückzugewinnen. Nur 18 Prozent der AFD-WählerInnen sind von der Union „übergelaufen“, deutlich mehr, 25 Prozent, sind frühere NichtwählerInnen. Die Gefahr ist vielmehr, dass sich die demokratischen Kräfte im Streit über den Umgang mit der AFD (und ihrem Gedankengut!) bis zur Regierungsunfähigkeit zerstreiten. Eine solche Entwicklung, bei der die eine Seite sich bei den Rechtsextremen anbiedert und die andere Seite sich in der Opposition dazu radikalisiert, könnte tatsächlich eine gefährlich Destabilisierung des demokratischen Systems bedeuten.

Die demokratischen Parteien müssen zwar den Kampf in der Sache hart miteinander führen – auf jeden Fall wieder härter als bisher -, in der Auseinandersetzung mit Antidemokraten müssen sie sich aber weiterhin an ihre gemeinsamen Werte erinnern. Der Kampf um die offene Gesellschaft hat gerade erst begonnen.