Rettet die Aufklärung!

Über Olaf Scholz, Wissenschaftsfeindlichkeit und die Demokratie

Anlass für diesen Text ist ein Interview, dass Bundeskanzler Olaf Scholz am gestrigen Sonntag, den 28. März 2022 der Journalistin Anne Will in der ARD gab. Auf die kritische Nachfrage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit eines Energieembargos gegen die Russische Föderation aufgrund des Überfalls auf die Ukraine antwortete Scholz:

„Die [Wirtschaftswissenschaftler, die das für möglich halten,] sehen das aber falsch und es ist ehrlicherweise unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht wirklich funktionieren. Ich kenne in der Wirtschaft überhaupt niemanden, dass das [ein Produktionsstopp in ganzen Industriezweigen] die Konsequenzen wären.“

Scholz unterliegt hier einerseits der verbreiteten Verwechslung von betriebswirtschaftlicher Erfahrung und volkswirtschaftlicher Expertise, sie seit Jahren und Jahrzehnten in Deutschland zu schlechter Wirtschaftspolitik führt. Ständig wird das Interesse einzelner großer Unternehmen mit guter Wirtschaftspolitik verwechselt (im Extremfall bis hin zu Ministererlaubnissen für Unternehmensfusionen, die zu marktbeherrschenden Stellungen führen).

Die Sätze von Scholz haben mich aber aus einem anderen Grund erschreckt: Sie passen gut zu zahllosen ähnlichen Sätzen, die während der Corona-Pandemie von Politiker*innen über epidemiologische Modellierer*innen gesagt wurden. (Die übrigens im Nachhinein sehr oft recht behielten.) Es geht also nicht nur – nicht mal in erster Linie – um Scholz. Aus seinen Sätzen spricht eine in der Politik verbreitete Geringschätzung von Wissenschaftler*innen und der wissenschaftlichen Methode. Und damit letztlich des Weltbildes der Aufklärung.

Dialektik der Aufklärung

Aufklärung war – dem berühmten Diktum Kants zufolge – der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. In der Epoche zwischen ca. 1650 (René Descartes) und 1800 (Immanuel Kant) wagten Menschen den Versuch, durch eigenes Denken – und ohne den Umweg über Offenbarung und Tradition – zu einer Erkenntnis von Wirklichkeit zu gelangen.

Die moderne wissenschaftliche Methode ist Kind dieser Epoche. Sie versucht, Wirklichkeit ausschnittsweise in (oft mathematischen) Modellen abzubilden und überprüft diese Modelle dann empirisch. So gelangt sie zu allgemeinen, gesetzmäßigen Aussagen, die Voraussagen über komplexe Zusammenhänge ermöglichen. Der Mensch kann durch die den eigenen konkreten Erfahrungshorizont und die Grenzen der eigenen sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit übersteigen. Moderne Mobiltelefone, Computer, Internet oder auch nur die Teflonpfanne – sie wären ohne die wissenschaftliche Methode nicht vorstellbar.

Weitere Kinder dieser Epoche sind die in Geschwisterrivalität verbundenen Zwillinge Republikanismus und Liberalismus. Darunter verstehe ich erstens den Gedanken, dass es Staatlichkeit um ein öffentliches Gut zu gehen habe und nicht um das Interesse eines Herrschers. Und zweitens den Gedanken, dass sich legitime Staatlichkeit letztlich nur von den Freiheits- bzw. Menschenrechten der Einzelnen ableiten kann.

Die beiden Aspekte – Wirklichkeitsorientierung und Republikanismus/Liberalismus – bedingen einander. Auf der einen Seite ist die Freiheit des Menschen eine Bedingung für wissenschaftliche Erkenntnis – diese funktioniert nur durch Abweichung und Kritik. Und auf der anderen Seite ist es gerade eine Orientierung an Wirklichkeit, die Republikanismus und Liberalismus vor einem Abgleiten in Ideologie bewahren. So ist es ein regelmäßiger „Realitätscheck“ in Form freier, gleicher und geheimer Wahlen, der aus dem freien Wollen Einzelner eine legitime Herrschaft ableitet.

Aber ebenso erforderlich ist es halt auch, dass das, was „öffentliches Interesse“ ist, konzeptionell gegründet ist auf einem bestmöglichen Verständnis dessen, was möglich und wirklich ist.

Erkenntnistheoretischer Nihilismus

Was mich an der Politik erschreckt, die Olaf Scholz zum Ausdruck gebracht hat, ist ihr erkenntnistheoretischer Nihilismus. Es ist eine Politik, die sich nicht an wissenschaftlichen Wirklichkeitsverständnis orientieren will, weil sie wissenschaftliches Wirklichkeitserkenntnis letztlich für unmöglich (oder störend) hält. Deshalb beschränkt sie sich auf Erfahrungen, auf das Subjektive, auf „Fahren auf Sicht“. Und auf jene „Expertenmeinungen“, die mit der eigenen Sicht übereinstimmen.

Politik verkommt so zum freien Spiel von Meinung und Gegenmeinung, bei dem immer die eigene Meinung die richtige ist. Irrtum ist methodisch ausgeschlossen, weil eine die eigene Erfahrungswelt übersteigende Erkenntnisquelle methodisch ausgeschlossen ist. Gerade diese Politik lässt unter dem Signum der Ideologiefreiheit den Ideologien (und seien es aus dem Lobbyismus geborene) den maximalen Raum, weil sie sich selbst des kritischen Moments der Vernunft beraubt. Und so sehr dies Olaf Scholz zuwider laufen dürfte: Diese Haltung führt schnell in eine Welt der alternativen Fakten und „fake news“, bei der zur Not ganze „Wissenschaften“ erfunden werden, um die eigene Position zu untermauern. Und irgendwann retten auch formal freie Wahlen die Demokratie nicht mehr.

Insofern muss die Forderung an Politik und Journalismus, an Wissenschaft und Öffentlichkeit lauten: Rettet die Aufklärung! Fordert eine Politik ein, die sich an den besten Wirklichkeitsbeschreibungen orientiert, die ihre Zeit zu bieten hat! Rehabilitiert den öffentlichen Vernunftgebrauch! Lasst uns Politiker*innen nicht mit unseren Wordings und Narrativen und dem Fahren auf Sicht durchkommen!

Und Übrigens: Im Wahlkampf hat Olaf Scholz den Altkanzler Helmut Schmidt als sein großes Vorbild gezeichnet. Helmut Schmidt war Ökonom.

Heimatlose Freiheit

Warum die FDP für mich keine liberale Partei ist

Der Liberalismus ist zurück. Er trägt Drei-Tage-Bart, Unterhemd und Schwarz-Weiß. Der neue Liberalismus, inkarniert im FDP-Parteivorsitzenden Christian Lindner, ist eloquent, er ist sexy, er ist hip. Ihn umweht der Geruch von Weite und Freiheit, von Selbstbestimmung und Optimismus und vor allem: von Erfolg. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg.

Der neue Liberalismus hat nur ein Problem: Er hat mit Liberalismus eigentlich sehr wenig zu tun. Klaus Englert hat es in einem Politischen Feuilleton für den Deutschlandfunk Kultur kurz aber treffend analysiert. Ich würde es so sagen: Die Freiheit der neuen FDP ist die Freiheit der Marlboro-Werbung. Weniger Staat – und sehr viel Inszenierung.

Das FDP-Wahlprogramm, Abschnitt „Vorankommen durch eigene Leistung“, entwirft das Bild eines Landes, in dem die Menschen ihre eigene Lage nicht mehr durch Leistung verbessern können – Schuld ist der „Bürokratismus“, der die „Innovationskräfte der sozialen Marktwirtschaft“ fesselt. Hört sich gut liberal an, ist aber rhetorischer Seifenschaum aus dem Zauberkasten des Neoliberalismus. Wenn man „Soziale Marktwirtschaft“ durch „Camorra“ und „Bürokratismus“ durch „Rechtstaat“ ersetzt, ergibt der Satz noch beinahe ebenso viel (oder wenig) Sinn: Nur durch Reduzierung des Rechtstaats können die Produktivkräfte der Camorra freigesetzt und den jungen, aufstrebenden Entrepreneuren der Branche neue Chancen eröffnet werden.

Diesem Freiheitsverständnis ist egal, wer da eigentlich wozu befreit wird und was er oder sie mit dieser Freiheit anfängt. Ihm geht die universalistische Haltung ab, die für liberales Denken eigentlich kennzeichnend ist. Das zu befreiende Individuum ist immer ich selbst. Es geht um „meine“ Freiheit, um „meine“ Chance, um „meinen“ Erfolg. Es geht eben nicht um größtmögliche Freiheit für alle.

Freiheit ohne Regeln?

In der Diesel-Affäre hat Christian Lindner dem Deutschlandfunk ein Interview gegeben. Es gelte, Fahrverbote für Diesel-PKW „um jeden Preis“ zu verhindern, da es sich um „Enteignung“ handele. Der Deutschen Umwelthilfe, die gerade den Klageweg beschreitet, um wirksam Luftreinhaltepläne in deutschen Städten zu erzwingen, wirft er Ideologie vor. Sie sei nicht gemeinnützig und empfange Sponsorengelder, vertrete mithin ebenfalls wirtschaftliche Interessen. Da es sich um den Kampf zweier Technologien handele, solle sich der Staat „als Schiedsrichter“ aus dem Konflikt raushalten – meint: Das mit den Grenzwerten mal nicht so genau nehmen.

Man muss sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Ein „liberaler“ Politiker wirft einer nichtstaatlichen Organisation das Vertreten von Wirtschaftsinteressen vor, weil diese sich daran macht, geltendes Recht auf dem Rechtsweg durchzusetzen! Stattdessen soll der Staat den eigenen Ordnungsrahmen lieber aufweichen, wenn dieser eine Technologie benachteiligt. Anders ausgedrückt: Er fordert den Schiedsrichter-Staat auf, die Fouls der Heimmannschaft zu ignorieren, weil diese viel Geld in den Einkauf ihrer Spieler investiert hat.

Lindner entfernt sich mit rasenden Schritten von der wirtschaftspolitischen Tradition des Ordoliberalismus. Das Recht zu beugen oder mit Steuergeld einzuspringen, sind mit ordoliberalem Denken eigentlich nicht vereinbar. Das politische Muster ist das einer Interessenvertretung, eines Lobbyisten: Es zählen einzig die Interessen der eigenen Klientel.

Liberaler Universalismus

Liberalismus ist eigentlich eine politische Haltung, die das Individuum und seine Freiheit in das Zentrum setzt. Er fordert aber nicht nur die eigene Freiheit ein oder die Freiheit einer Gruppe, sondern die Freiheit aller. Das Recht der Freiheit kommt dem Menschen als Menschen zu. Die Freiheit der eigenen Klientel zu fordern ist gerade kein Liberalismus. Auch die Adligen des mittelalterlichen Feudalismus forderten Freiheiten ein – für die feudalistischen Adligen halt. Das ist nicht Liberalismus sondern Interessenvertretung. Liberales Denken beschränkt die Freiheiten der Adligen, um die Freiheit der Leibeigenen zu ermöglichen. Liberales Recht schränkt die Freiheit der Konzerne ein, um die Freiheit der VerbraucherInnen (und der KonkurrentInnen!) zu schützen. In Anlehnung an Rosa Luxemburg: Freiheit ist immer die Freiheit der anderen.

Vorsicht! Philosophischer Überbau…

Eine wichtige Einsicht des politischen Liberalismus ist, dass Freiheit nur möglich ist, wenn es für alle gleichsam verbindliche Regeln gibt. Gewissermaßen gemäß Immanuel Kants klassischer Formulierung

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ – Immanuel Kant: AA IV, 4215

kann freies Handeln eines Menschen nur dann gedacht werden, wenn es mit dem freien Handeln aller Menschen vereinbar ist. In einer Gesellschaft, in der nur wenige frei sind, sind auch diese Wenigen niemals wirklich frei – und wenn es der Zwang ist, ihre Sonderstellung erhalten zu müssen.

Die Aufgabe eines politischen Liberalismus

Die traurige Seite der ganzen Sache ist, dass der moderne Vulgär-Liberalismus, der sich selbst zu einer Interessenvertretung einer wirtschaftlichen Aristokratie degradiert, den neuen Autoritären und ihrer Rhetorik wenig entgegenzusetzen hat. Es wäre eigentlich an Liberalen, die Stärke des Rechts gegen das „Recht des Stärkeren“ zu verteidigen. Wer das Recht auf seiner Seite weiß, muss sich keinen „starken Mann“ suchen, um die eigenen Interessen zu vertreten.

Es wäre zweitens die Aufgabe eines modernen Liberalismus, nicht nur das Zutrauen in den Erfolgswillen und die Einsatzbereitschaft des/der Einzelnen zu stärken. Sondern auch das Zutrauen in die Fähigkeit zum Interessenausgleich, zum vernünftigen Dialog, zur Verhandlung und Durchsetzung allgemeiner Normen. Dazu eine Anekdote am Rande: Die Forderung nach einer allgemeinen, durchaus hohen Erbschaftssteuer gehört eigentlich zum Grundbestand liberalen Denkens. (Oder würde hier jemand Adam Smith als Sozialisten bezeichnen?) Die FDP ist deren eingeschworene Gegnerin.

Es wäre drittens die dringende Aufgabe einer liberalen Partei, den Gedanken der sozialen und ökologischen Verantwortung mit marktwirtschaftlichem Denken zu versöhnen. Sozialstaat und Ökologie sind unmittelbare Folgen aus der Einsicht, dass Freiheit nur universell gedacht werden kann und eine Freiheit, die auf Kosten kommender Generationen oder auf Kosten der Schwächeren erkauft wird, eben keine Freiheit ist – sondern Ausbeutung. Auch diesen Gedanken hat die FDP in ihrem von 1971 bis 1977 gültigen Freiburger Parteiprogramm einmal vertreten. Die heutige FDP scheint sich nicht schnell genug davon distanzieren zu können.

Schlusswort – Heimatlose Freiheit

Unter dem Strich steht für mich die traurige Erkenntnis, dass der politische Liberalismus in Deutschland derzeit ziemlich heimatlos ist. Die FDP vertritt ihn jedenfalls nicht. Die SPD besinnt sich – zu Recht – auf ihre eigene sozialdemokratische Tradition, Sachwalterin der unteren Mittelschicht zu sein. Die CDU ist deutlich nach rechts gerückt und gemeinsam mit der CSU hauptverantwortlich für die juristische Immunität großer Unternehmen. Sie ist – auch unter einer Kanzlerin Angela Merkel – die Partei der oberen Mittelschicht.

Und wer steht für den Gedanken, dass die Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Interessen auch irgendwie zusammenhalten muss? Dass es ein für alle gleichsam verbindliches Recht braucht? Wer sucht den Ausgleich unter den Interessen – und dabei den Ausgleich mit den kommenden Generationen? Ich hoffe, dass die GRÜNEN den Mut dazu finden.