Weil Putin scheitern muss

Vom Schrecken des Krieges und politischer Verantwortung

Eine Frau liegt mit schockgeweitetem Blick auf einer Trage, die von Rettungskräften durch eine Trümmerlandschaft getragen wird. Ihr Gesicht ist bleich, unter dem hochgerutschten Pullover ist deutlich ihr vorgewölbter Bauch zu sehen, darunter das Rot von Blut. Schnee fällt. Oder Asche.

In der ukrainischen Stadt Mariupol hat eine russische Bombe eine Geburtsklinik getroffen.So berichtet unter anderem der SPIEGEL. Berichte dieser Art häufen sich. Eine Evakuierung der Stadt ist gescheitert. Vereinbarte Fluchtkorridore wurden beschossen, heißt es. Oder sie waren vermint.

Ich habe Bilder von russischen Schmetterlingsminen gesehen – kleine Minen, die in großer Zahl aus einem Flugzeug heraus verteilt werden. Sie sollen nicht töten. Sie sollen eine Hand, einen Arm, einen Fuß abreißen – weil Schwerverwundete den Feind stärker behindern als Tote. Sie sehen aus wie Kinderspielzeug.

In Mariupol soll ein Exempel statuiert werden, so scheint es. „Seht, was geschieht, wenn ihr weiter Widerstand leistet.“ Statt der Reden des Präsidenten sollen die Handys der Ukrainer*innen den Schrecken des Krieges verbreiten.

Es ist eine Wiederholung dessen, was bereits in Syrien geschehen ist. Und was wir damals ignoriert haben.

Nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus

Meine Politisierung begann 1998 im Kosovokrieg, in den 1999 die NATO mit Luftschlägen eingriff. Ich war gerade 14 geworden und verstand vieles nicht, was NATO-Generalsekräter Javier Solana oder Außenminister Joschka Fischer im Fernsehen sagten. Ich glaubte zu verstehen, dass der serbische Präsident Slobodan Milošević Männer, Frauen und Kinder vertreiben und ermorden ließ – und dass ihn jemand aufhalten musste.

Ich erinnere mich auch noch an die Bilder vom Bielefelder Parteitag der GRÜNEN, an die Rede Joschka Fischers, mit der er Deutschlands Beteiligung an diesem Krieg rechtfertigte. Auf seinem Jackett waren noch deutlich die Spuren des Farbbeutels sichtbar:

„Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“

Ich denke heute oft an diese Rede. Auch ihretwegen bin ich Jahre später den GRÜNEN beigetreten – trotz des überzogenen Auschwitz-Vergleichs. Weil sich die Partei sich, als ihre pazifistischen Wurzeln mit der brutalen Realität kollidierten, damals als politikfähig erwiesen hat.

Putin darf keinen Erfolg haben

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine stehen wir wieder vor einer solchen Situation. Die Entwicklung zu Frieden, Freiheit und Demokratie hat sich abermals als nicht unumkehrbar erwiesen. Und anders als 1999 kann und darf die NATO heute unter keinen Umständen direkt eingreifen. Weil der Aggressor mit dem zweitgrößten Nuklearwaffenarsenal der Welt bewaffnet ist.

Und trotzdem muss Putin scheitern. Um der Ukraine willen – aber auch um unseretwillen. Denn wenn Putin Erfolg hat, wird er, werden andere einfach weiter machen. Ein wie auch immer teuer erkaufter Erfolg der russischen Föderation würde nicht nur die europäische Friedensordnung in Schutt und Asche legen, sondern gleich noch die traurigen Reste dessen, was wir mal die regelgebundene internationale Ordnung nannten.

Deswegen muss der „Westen“ in Einklang mit §51 der Charta der Vereinten Nationen Waffen an die Ukraine liefern. Deswegen ändern die Europäische Union und Deutschland ihre Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik – weil „soft power“ ohne eine glaubwürdige Abschreckungsfähigkeit manchmal überhaupt keine „power“ ist. Deswegen wird auch meine Partei diesen Aspekt ihrer Politik (erneut) neu justieren.

Aber deswegen können wir auch nicht – während in Mariupol diese Verbrechen passieren – weiterhin jeden Tag dem Regime von Wladimir Putin Geld für Öl und Gas überweisen. Dieses Geld – selbst wenn es nicht jetzt direkt den Krieg finanziert – dient mittelfristigen der Stabilisierung und Wiederaufrüstung des Regimes. Und umgekehrt destabilisieren bleibende deutsche Wirtschaftsverbindungen zum russischen Regime die Europäische Union und das transatlantische Verhältnis. Man sollte sich hier keine Illusionen machen: Wenn Deutschland jetzt nicht aussteigt, wird es noch einige Zeit von Russland abhängig bleiben. Und wenn Ukrainer*innen dies als Verrat empfinden, kann ich sie verstehen.

Ein Energieembargo gegen Russland würde Deutschland schwer treffen. Mehr als ein Drittel der Gasimporte wird derzeit in der Industrie verwendet, teils als Ausgangsstoff in der chemischen Industrie. Ein weiteres Drittel verbrauchen Haushalte, hauptsächlich zum Heizen. Diese Mengen sind kurzfristig nicht vollständig zu ersetzen. Man wird priorisieren müssen und wenn die Industrie bevorzugt beliefert wird, in den anderen Bereichen umso schärfer sparen. Das wird hart, vielleicht sehr hart.

Aber man wird sich fragen müssen, ob wir uns die Alternative leisten können – wirtschaftlich, geostrategisch, moralisch.

Das mildere Mittel

Warum ich (immer noch) für eine allgemeine Impfpflicht bin. Ein Debattenbeitrag.

Im Landesvorstand der GRÜNEN in Niedersachsen haben wir uns Anfang Dezember in einem Beschluss für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Ein Paradigmenwechsel. Als ich im Juli 2021 diese Position in anderen Zusammenhängen erstmals vertrat, war das Echo ablehnend. Die Fallzahlen waren auf einem Tiefststand, Impfstoff war ausreichend verfügbar und im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs war die Impfpflicht politisch ähnlich beliebt wie eine Mehrwertsteuererhöhung.

Ein halbes Jahr später stecken wir trotz leicht sinkender Fallzahlen mitten in der vierten Welle, Intensivstationen haben die Kapazitätsgrenze erreicht und vor der Tür steht Omikron. Kürzlich warnte der Expertenrat der Bundesregierung vor einer „ernsten Gefahr für die kritische Infrastruktur“ und forderte dringend Kontaktbeschränkungen. Die berufsbezogene Impfpflicht ist inzwischen beschlossen. Und wir werden auch erleben, dass die allgemeine Impfpflicht kommt. Wenn nicht jetzt, dann später, nach der fünften, sechsten Welle.

Weg aus der Pandemie

Eine allgemeine Impfpflicht wird früher oder später kommen, weil sie einer von zwei Wegen zurück in einen Zustand relativer Normalität ist. Der andere Weg, die kontrollierte oder unkontrollierte Durchseuchung, bedeutet den zusätzlichen Tod vieler tausend Menschen und kaum abzuschätzenden wirtschaftlichen Schaden. Der dritte Weg, der in der freiwilligen Impfung eines hinreichend großen Teils der Bevölkerung bestand, hat sich als nicht realistisch erwiesen.

Ich halte eine Impfpflicht aber auch deshalb für richtig, weil sie ein Stück kommunikative Ehrlichkeit bedeutet. Die Entscheidung über die Impfung ist nicht nur eine rein private, weil sie nicht nur das eigene Risiko betrifft. Jede Entscheidung für oder gegen die Impfung betrifft uns alle – weil sie die Pandemie verlängert, das Infektionsrisiko (trotz Impfung) erhöht und medizinische Ressourcen bindet. Diese Denkfigur zieht sich von Anfang an durch die Pandemie: Maskentragen und Kontaktbeschränkungen, um sich selbst und andere zu schützen. Auch hier haben wir es zuerst mit Freiwilligkeit versucht und dann – als Freiwilligkeit sich als unzureichend erwiesen hat – mit Pflicht und Kontrollen nachgesteuert. Und ich persönlich finde nicht, dass eine Impfung der schärfere Grundrechtseingriff ist im Vergleich dazu, dass das halbe Jahr über ein Großteil des öffentlichen Lebens verboten werden muss. Sie ist für mich das mildere Mittel.

Gefährliche Spaltung?

Es gibt im Wesentlichen zwei Argumente gegen eine Impfpflicht: Das erst Argument ist, dass eine Impfpflicht zur Spaltung der Gesellschaft führe. Ich halte es für ein hochproblematisches Argument. Es verschließt die Augen vor den Belastungen, die bereits jetzt für den gesellschaftlichen Zusammenhang bestehen. Indem der Staat gesagt hat, die Impfentscheidung sei Privatsache – moralisch falsch aber rechtlich legitim – privatisiert er auch den gesellschaftlichen Konflikt um die Impfung. In Familien und Freundeskreisen, am Eingang zu Läden und Kultureinrichtungen, in Zügen und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln findet täglich die Auseinandersetzung um Impfungen statt – wie zuvor schon um Masken- und Testpflichten. Kurz: Wer eine gesellschaftliche Spaltung befürchtet, macht es mit der bisherigen Politik nicht besser.

Das Spaltungs-Argument ist aber auch grundsätzlich problematisch, weil es – konsequent gedacht – zur Handlungsunfähigkeit demokratischer Systeme führt. Der Gedanke der ideologischen Einheit des Staatsvolkes jedenfalls ist Demokratien fremd. Hier wird diskutiert und gestritten und am Ende (mit Mehrheit) entschieden. Gerade die im Wortsinne „kritischen“ Fragen markieren die Grenze jener speziellen Form von Konsensdemokratie, auf die hin Deutschland strukturell angelegt ist und die in den letzten 16 Jahren tonangebend war. Wenn ein sachlich angemessener Kompromiss nicht möglich ist, muss eine sachlich angemessene Entscheidung mit Mehrheit gefällt werden.

Eine Frage der Umsetzung

Das zweite Argument gegen eine Impfpflicht ist, dass sie nicht umsetzbar sei. Hinter diesem Argument steht offenbar die Vorstellung, die Durchsetzung der Impfpflicht würde bedeuten, sich in den Einwohnermeldeämtern sämtliche Impfausweise vorzeigen zu lassen und bei Impfunwilligen die Polizei mit der Spritze in der Hand nach Hause zu schicken. Also ein bisschen wie bei der Wehrpflicht. Und in der Tat wird man sagen müssen, dass sich eine Impfpflicht auf diese Art und Weise kurzfristig nicht umsetzen ließe. Ich würde es so auch nicht wollen – Karlsruhe meiner Vermutung nach auch nicht.

Der jetzt ventilierte Gedanke eines nationalen Impfregisters hätte ähnlich Probleme. Wer sollte eine solche Datenbank aufbauen, nachhalten und durchsetzen? Hierfür hat der Bund derzeit nicht die Infrastruktur oder das Personal. Die Einwohnermeldedaten liegen bei den Kommunen, deren Gesundheitsämter – die so etwas theoretisch könnten – sind schon jetzt am Limit.

Das bedeutet aber nicht, dass eine Impfpflicht nicht auch ohne solche zentralstaatlichen Großprojekte umsetzbar wäre. Ich würde auf einen Dreiklang aus 1.) rechtlicher Klarheit, 2.) anlassbezogenen Kontrollen mit entsprechenden Bußgeldern und 3.) einer proaktiven Impfkampagne setzen.

Unter rechtlicher Klarheit verstehe ich nicht nur die Festlegung, wer sich bis wann wie zu impfen hat. Mein Ziel wäre, dass jene Menschen die Rechtsfolgen tragen, die dieser Pflicht nicht nachkommen und so fahrlässig zu einer Weiterverbreitung des Virus beitragen. Es geht mir insbesondere um Haftung, z.B. für Personenschäden. (Mir ist bewusst, dass die rechtlichen Details hier teilweise sehr kompliziert sind – das stört Regierungen aber sonst auch nicht.) Schon hierdurch kann sich die Anreizstruktur erheblich ändern.

Noch wichtiger wären mir breite aber anlassbezogene Kontrollen. Ich bin sehr skeptisch gegenüber einer abstrakten Kontrolle anhand eines Impfregisters – aber umso mehr überzeugt von verstärkten Kontrolle überall dort, wo Menschen in Kontakt gehen. Also beispielsweise stichprobenartig in Restaurants oder Kinos, in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei Gottesdiensten, bei Berufen mit viel Menschenkontakt, als Eingangsvoraussetzung in Bildungseinrichtungen (wie bei der Masernimpfpflicht) etc. Bußgelder würden verhängt, wenn Menschen ohne Impfstatus solche Orte besuchen. Es wäre keine grundlegende Neuerung gegenüber der 2G-Regelung, sondern eine rechtliche Weiterentwicklung und teilweise Rückverlagerung der Rechtsdurchsetzung von den Gewerbetreibenden auf den Staat. Solche Kontrollen und Bußgeldtatbestände wären skalierbar, um den organisatorischen Anforderungen an eine kontrollierende Infrastruktur – aber auch dem Gebot zur Wahl des jeweils mildesten Mittels – Rechnung zu tragen. Die Kontrollbereiche und ggf. bußgeldbewehrten Tatbestände könnten ggf. sukszessive ausgeweitet werden, um die notwendigen Impfquoten zu erreichen.

Und drittens müsste eine Impfpflicht natürlich begleitet werden von einer erneut intensivierten Impfkampagne. Insbesondere würde ich erwarten, dass alle Einwohnerinnen einmal angeschrieben und auf Impfangebote in ihrer Nähe hingewiesen werden. Es müsste mehrsprachige Informationsangebote geben und vertrauliche Beratungsangebote für Skeptikerinnen.

(Randbemerkung: Hierbei wird wieder einmal klar, dass erfolgreiche Pandemiebekämpfung nicht in Ministerien und Bundes- wie Landesbehörden geschieht, sondern vor Ort in den Kommunen. Wäre eine gute Gelegenheit mal über eine bessere Finanzausstattung der Städte, Gemeinden und Landkreise nachzudenken.)

Es muss keine sechste Welle geben

Natürlich ist auch mit solchen Maßnahmen kein schneller Ausweg aus der aktuellen pandemischen Lage von nationaler Tragweite (pun intended). Hier wird kurzfristig ein neuer Lockdown nicht zu vermeiden sein. Aber es muss keine fünfte und sechste Welle geben.

Genug!

Nach einem Jahr Improvisation sollten wir mal mit dem Krisenmanagement anfangen.

Eine Binnenlogik des Politischen führte die Regierenden Anfang März zu einer Lockerungsstrategie, die schon damals mit einem nüchternen Blick auf die Zahlen nicht mehr in Einklang zu bringen war. Nun wurde nach einer Marathon-Sitzung, in der sich die Ministerpräsidenten auf gar nichts einigen konnten, die Osterruhe als Minimalkompromiss beschlossen. Sie stellte sich gut einen Tag später als nicht umzusetzen heraus und wurde von der Kanzlerin unter viel „Asche-auf-mein-Haupt“ wieder kassiert. Von den Minimalbeschlüssen der MPK bleibt nach Rücknahme der „Osterruhe“ nur noch der fortgeschriebene Status-Quo, der erwiesenermaßen nicht ausreicht, um die dritte Welle aufzuhalten.

Die Dramatik der Abläufe entsteht auch dadurch, dass es weder eine funktionierende Strategie für den Einsatz von Schnelltests noch die dafür notwendige Logistik gibt, weswegen Jens Spahn und Andreas Scheuer (sic!) mit der Lösung dieses Problems betraut wurden. Was in Niedersachsen nach einem Jahr immer noch fehlt, ist ein halbwegs plausibles Konzept für einen pandemiegerechten Betrieb der öffentlichen Schulen und Betreuungseinrichtungen. Man hat sich auf die Rettung durch den Impfstoff verlassen – und vergessen, dass auch der Impfstoff nicht von selbst in die Oberarme kommt. (Von einheitlichen Standards für die Durchführung der Kontaktnachverfolgung und einer wirksamen Unterstützung kommunaler Gesundheitsämter durch das Land rede ich schon gar nicht mehr.) Und das alles nicht etwa, weil uns Wissenschaftler*innen nicht frühzeitig auf alle diese Probleme hingewiesen hätten. Im Gegenteil.

Nach einem Jahr „Fahren-auf-Sicht“ und zwei- bis vierwöchentlichem Reagieren auf die jeweils aktuelle Stimmungslage von Presse und Interessenverbänden offenbart die Pandemie die Handlungsunfähigkeit der Regierenden.

Die Systemlogik des Politischen

In der Ministerpräsidentenkonferenz regiert die Systemlogik des Politischen, die nicht fragt: „Wie kommen wir am besten durch die Pandemie?“ Es geht um Länderinteressen, um das Ansehen in der Öffentlichkeit, um wichtige Einflussgruppen und deren Anliegen. Diese etwas schmutzig wirkende Logik dient in unserem politischen System in „Friedenszeiten“ dem eminent wichtigen Ausgleich von Interessen. Sie schafft nicht immer optimale Lösungen, vermag aber als Prozess die Gesellschaft zu befrieden. In der Krise jedoch erweist sie sich als untauglich, weil das Virus kein Interesse innerhalb eines Gesamtkalküls darstellt, sondern eine unabänderliche Rahmenbedingung des Politischen.

Einen vergleichsweise guten Ruf genießt immer noch die Kanzlerin, weil sie – durchaus glaubwürdig – für einen Kurs der Vernunft wirbt. Es ist bezeichnend, dass es dafür derzeit ausreicht, dass sie mathematische Modelle ernst nimmt und dagegen ist, eine große Zahl von Menschen in der Wundflüssigkeit ihrer entzündeten Lungen ertrinken zu lassen. Sie könnte ein Bundesgesetz zur Pandemiebekämpfung durch das Kabinett und in den Bundestag einbringen und dort notfalls mit der Vertrauensfrage verbinden. Aber dazu scheint sie auch ein halbes Jahr vor dem definitiven Ende ihrer Kanzlerschaft nicht bereit zu sein. Auch sie unterliegt einer Logik des Machterhalts ohne zu fragen, wofür sie diese Macht eigentlich nutzen will.

Politik trotz ihrer Binnenlogik mit der Betrachtung der Wirklichkeit beginnen zu lassen, wäre die eigentliche Aufgabe demokratischer Führung. Poetischer: Es braucht die Leidenschaft und das Augenmaß, das Notwendige zu erkennen und dafür um Mehrheiten zu werben.

Ich bin für eine harten Shutdown

Der aktuelle Kurs der Regierung gefährdet Menschenleben. Und er nutzt nicht einmal denen, die jetzt von Lockerungen profitieren sollen – weder den Händler*innen, noch der Wirtschaft insgesamt und schon gar nicht der Kultur und den Familien. Denn Lockerungen zur falschen Zeit führen absehbar zu neuen Verschärfungen und im Hin und Her von Lockerungen und Verschärfungen dehnt sich die Zeit im Lockdown ins Unendliche.

Ich lege mich deshalb fest: Ich bin für einen harten Shutdown für mindestens zwei Wochen, wie ihn die deutsche Gesellschaft für Intensivmedizin jetzt fordert. Besser vier Wochen, um die Zahlen schnell nach unten zu bekommen. In der Zeit müssen wir das mit dem Testen und das mit dem Impfen und das mit dem Nachverfolgen endlich auf den Zacken kriegen. Dafür braucht es ein Gesetz – eigentlich auf Bundesebene – damit das gerichtsfester ist als diese komischen Verordnungen. Und dann können wir in einem Monat hoffentlich vorsichtig lockern.

Im Lockdown die Offenheit bewahren

Einige Gedanken zu den gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und zur politischen Aufgabe über die akute Nothilfe hinaus.

Corona ist die schwerste öffentliche Gesundheitskrise der vergangenen Jahre. Zugleich ist Corona eine wirtschaftlich und vor allem soziale Krise, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine harte Probe stellt. Viele Institutionen sind beeinträchtigt, die in normalen Zeiten eine offene Gesellschaft zusammen bringen: Dies beginnt bei den demokratischen Institutionen selbst, den Parlamenten und Parteien. Die Absage der großen Parteitage – auch der GRÜNEN in Niedersachsen – und die Ungewissheit, wie der innerparteiliche Willensbildungsprozess in den kommenden Monaten funktionieren wird, sind Beispiele. Noch dramatischer betroffen ist der zivilgesellschaftliche Teil unserer demokratischen Gesellschaft, die Basis des demokratischen Diskurses. Vereine und Gruppen, die ihre Treffen auf das Nötigste reduziert haben, Versammlungen, die nur noch unter Auflagen möglich sind, informelle Treffen in Cafés, auf Partys oder in Kneipen, die derzeit nicht mehr stattfinden können. Es fehlt die Plattform zum Austausch, um Gemeinsamkeit zu stiften, Kontakte zu schaffen, Vereinzelung zu überwinden und Vorurteile abzubauen.

Kulturschaffende, Gastronom*innen, Veranstaltungstechniker*innen, viele soloselbständige Trainer*innen und Dienstleister*innen, Studierende mit Nebenjobs, aber auch ganze Branchen wie Theater, Clubs, Sportstudios, Bars und Restaurants verlieren ihre wirtschaftliche Grundlage. Es vertiefen sich ökonomische Ungleichgewichte zu Lasten von Menschen, die schon außerhalb der Krise oftmals in wirtschaftlich prekären Verhältnissen arbeiten. Für sie existieren derzeit zu wenige maßgeschneiderte Hilfsangebote, weil viele bisherige Unterstützungen vom sogenannten Regelarbeitsverhältnis ausgehen, das aber längst nicht mehr die Regel ist.

Andere werden in der Pandemie besonders gefordert – allen zuvorderst natürlich die Beschäftigen des Gesundheitssystems, aber auch Erzieher*innen, Lehrer*innen, Polizist*innen – aber auch alle, die unter den erschwerten Bedingungen ihrer normalen Arbeit nachgehen, die die zusätzliche Belastung durch Homeoffice und eingeschränkte Kinderbetreuung tragen müssen. Es gibt gesellschaftliche Spätfolgen der Pandemie, die bereits jetzt absehbar sind, wie vor allem der emanzipatorische Rückschritt, dass Frauen im Lockdown wieder viel stärker in traditionelle Rollenbilder gedrängt werden, zusätzlich Care- und Familienarbeit übernehmen und dadurch die Errungenschaften vergangener Jahre verloren gehen.

All’ diese kleinen und großen, teilweise kaum zu verhindernden Ungerechtigkeiten setzen unsere Gesellschaft einem beträchtlichen Stress aus. Die Aufgabe der Politik in dieser Zeit ist zuvorderst der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bevölkerung durch Maßnahmen, die insgesamt verhältnismäßig und rechtsstaatlich vertretbar sind. Es ist aber auch die Aufgabe von Politik, jenseits der wirtschaftlichen Entwicklung an das Überleben einer offenen Gesellschaft in einer vielleicht zweijährigen Zeit der Pandemie zu denken. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sich bestehende Gräben vertiefen, dass die Akzeptanz schwindet und jene Oberwasser bekommen, die eine andere, weniger liberale Gesellschaft wollen. Wir müssen im Lockdown die Offenheit bewahren.

Kein Freibrief für die Exekutive – eine Perspektive für die Gesellschaft

Die Corona-Krise ist eine Zumutung für Demokrat*innen, weil sie die gewohnten demokratischen Abläufe und Rituale durcheinander wirbelt und teilweise unmöglich macht. Sie ist aber noch keine Krise der Demokratie. Das zeigt sich in der funktionierenden Kontrolle durch unabhängige Gerichte, in einer kritischen Presselandschaft und letztlich auch darin, dass die Parlamente deutlich und erfolgreich ihre Beteiligung einfordern.

Die Krise ist die Stunde der Exekutive – aber sie ist kein Freibrief. Eine parlamentarische Debatte und eine offene Kommunikation in der Öffentlichkeit zwingt die Regierung, die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Einzelnen nachvollziehbar zu begründen – und eine schlüssige Begründung ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass sie von Öffentlichkeit und Gerichten (!) als verhältnismäßig beurteilt werden. Neben einer nachvollziehbaren Begründung ihres Handelns gegenüber Parlament und Öffentlichkeit muss die Landesregierung den kommunalen Gesundheits- und Ordnungsämtern, der Polizei, den Schulen und Kindergärten klare Handreichungen für den Winter geben geben – zum Beispiel bei der Umsetzung der Quarantäneanordnungen und Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung oder für den sicheren Unterrichts im Winter. Denn auch eine einheitliche und nachvollziehbare Umsetzung der Maßnahmen ist wesentliche Voraussetzung für ihre Akzeptanz.

In der wirtschaftlichen und sozialen Krise müssen wir politisch jene in den Blick nehmen, die in dieser Situation besonders verwundbar sind. Dies wäre der Zeitpunkt, um endlich über eine bedarfsgerechte Finanzierung von Frauenhäusern zu sprechen. Dies wäre der Zeitpunkt, einen Umgang mit dem verlorenen Schuljahr 2020/21 zu finden, unter dem nicht die Kinder in bildungsfernen Elternhäusern besonders leiden. Dies wäre der Zeitpunkt, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssystem und in der Pflege zu verbessern und systematischen Fehlentwicklungen zu begegnen.

Zugleich haben wir einen dringenden Bedarf an neuen Formen des Diskurses und des Austausches in Politik und Gesellschaft und an Formaten, die entlasten, Gemeinschaft stiften und Zusammenhalt verbessern. Wir brauchen eine Perspektive für die Zivilgesellschaft. Dies wäre die Zeit, um vielen Kulturschaffenden und Kreativen, selbstständigen Kommunikationexpert*innen die Möglichkeit einzuladen an neuen Formaten des Austausches zu arbeiten, neue Formen der kulturellen Bereicherung unseres Alltages zu finden und Debattenräume zu eröffnen. Ich bin ausdrücklich dafür, dass wir ihnen ein Angebot jenseits von HartzIV machen – aber nicht als „bedingungsloses Einkommen“, sondern als öffentliches Stipendium. Wir könnten damit damit die kulturellen und kommunikativen Errungenschaften aus dem ersten Lockdown wiederbeleben – nur dieses mal mit einem fairen Lohn.

Und ja, um dies alles zu finanzieren, wird man nach der Krise über einen fairen Lastenausgleich sprechen müssen. So viel Mut muss sein.