Ich hatte das große Glück, von Juni bis November 2019 den Wahlkampf von Belit Onay in Hannover leiten zu dürfen. Dieser Text ist der dritte Teil einer kleinen Serie über diesen Wahlkampf und berichtet von der nicht ganz einfachen Suche nach der Kernbotschaft. Dabei habe ich mich aus Gründen der Lesbarkeit nicht immer strikt an die historische Reihenfolge gehalten…
Horror Vacui
Am Anfang lag auf meinem Schreibtisch ein leeres, leicht gräuliches Blatt Recyclingpapier. Darauf kritzelte ich mit einem Kugelschreiber ein Dreieck. An die Ecken schrieb ich: Belit Onay, Hannover, GRÜNE. Im Verlauf der kommenden Tage kamen viele weitere Begriffe auf dem Blatt dazu, auf dem sich auch immer mehr Kaffeeflecken und mühsam geglättete Falten sammelten. Doch die Mitte des Dreiecks blieb leer. Es fehlte das richtige Wort.
Wahlkämpfe sind keine Werbekampagnen
Mein Denkmodell für die inhaltliche Wahlkampfplanung ist recht einfach: Wahlkampagnen sind Akte öffentlicher Kommunikation, die die Frage beantworten müssen: „Warum soll ich dich wählen?“ Sie unterscheiden sich insbesondere von Werbekampagnen, weil bei Wahlen über die Richtung abgestimmt wird, die eine ganze Stadt oder ein Land einschlägt. Deshalb müssen Wahlkampagnen Überzeugungen schaffen und nicht nur ein Kaufverlangen erzeugen.
Die politische Botschaft einer Wahlkampagne ist zusammenfassend und zuspitzend ihre Antwort auf die Frage „Warum soll ich dich wählen?“ – die Richtung, für die einE KandidatIn oder eine Partei antritt. Sie ermöglicht damit die Wahlentscheidung als Richtungsentscheidung. Legendär ist das Wahlplakat Konrad Adenauers „Keine Experimente!“ – gut finde ich zum Beispiel auch Gerhard Schröder (2002) „Der Kanzler der Mitte.“ oder die GRÜNEN in Bayern (2018) „Mut geben statt Angst machen“. In diesen Fällen drücken die Wahlplakate den Kerngedanken der Kampagnenbotschaft aus.
Bei Kommunalwahlen ist diese Aufgabe besonders schwer. Ich erinnere mich noch an das Großflächenplakat der CDU: „5 Kinder. 4 Enkel. 1 Plan.“ Auf anderen Plakaten war zu lesen: „Stadt für alle statt für wenige!“, „Endlich sicher, sauber und sozial!“ und „Frische Luft für Hannover!“ Die SPD plakatierte: „Hannover. Besser. Machen.“ sowie „Hannover. Kindgerechter. Machen.“, „Hannover. Bezahlbarer. Machen.“ und „Hannover. Klimafreundlicher. Machen.“ Im Übrigen waren beide Plakatlinien klassisch gestaltet: Das Kandidatenportrait war freundlich lächelnd auf einen Hintergrund montiert, dazu einige weitere Bildelemente und zu viel Text.
Was beiden Plakatlinien aus meiner Sicht fehlte, war eine klare politische Botschaft. Für welche Werte standen die Kandidaten von SPD und CDU? Für welche Richtung der Politik kämpften sie? Was war die Idee für Hannover, die die politischen Einzelvorschläge zusammenhält? Neustart wohin? Besser inwiefern? Bezahlbarer wie? (Und seit wann existiert zu „bezahlbar“ eine Steigerungsform?) Für mich wurden diese Fragen im weiteren Verlauf des Wahlkampf nicht beantwortet.
Auch wir taten uns schwer.
Mehr als die Suche nach dem richtigen Wort
Wir hatte zu einem frühen Zeitpunkt in der Kampagne ein Beratungsgremium eingerichtet, in dem wir grundsätzliche strategische Fragen zu Positionierung und Thematik besprechen wollten. Es waren Menschen mit politischer Erfahrung dabei, die die Stadt gut kennen, darunter auch zwei frühere OB-KandidatInnen.
Was uns fehlte, war das Wort in der Mitte des Dreiecks: der eine Begriff, der zu unserem Kandidaten, zu unserer Partei und zur Situation in Hannover passt, die Zusammenfassung unserer politischen Botschaft in einem Wort.
Als wir uns trafen, bestand Einigkeit: Hannover ist eine im Kern sozialdemokratisch denkende Stadt, die aber nach 70 Jahren ununterbrochener Herrschaft, einer Rathausaffäre und vielen aufgelaufenen Problemen der SPD überdrüssig war. Aber einen völligen Politikwechsel wollte nach unserer Einschätzung die Mehrheit der HannoveranerInnen nicht. Wir hätten einen Kursänderung um 180 Grad nach 30 Jahren grüner Regierungsbeteiligung nicht glaubhaft vertreten können und wollen. Wie also die latente Wechselstimmung nutzen?
Wir GRÜNE hatten bundesweit gerade einen Lauf. Den Parteivorsitzenden wurde bis zum Kanzleramt alles zugetraut und es gab viel frischen Rückenwind. Unser Kandidat brachte neben großem persönlichen Charisma seine Geschichte mit, die ihn vom Gastarbeiterkind und sprichwörtlichen Tellerwäscher zum Landtagsabgeordneten geführt hatte. Doch es mangelte ihm an der beruflichen Führungserfahrung, die ihn zur „natürlichen“ Alternative zum SPD-Kandidaten gemacht hätte. „Keine Experimente!“ schied als Wahlkampfslogan jedenfalls aus.
Aber welcher Begriff funktionierte? Mit dem Vorschlag „Neuanfang“ blitzte ich zum Glück eiskalt ab. Es wäre keine überzeugende Antwort auf die Frage „Warum soll ich dich wählen?“ gewesen. Neuanfang wohin und wozu? Wollen wir auch das über Bord werfen, was wir in den letzten Jahren schon erreicht hatten? Und wo bleibt unser grüner programmatischer Anspruch? Darauf hatte ich keine Antwort. Recht niedergeschlagen kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück.
Zurück ans Zeichenbrett
In den folgenden Tagen las ich viele Zeitungsartikel und Verwaltungsdokumente und erarbeitete ich mir folgende Analyse:
Die SPD hatte in Hannover schon in den Jahren unter Stephan Weil eine relativ progressive, grünen-nahe Rhetorik und Programmatik. Doch es klaffte eine große Lücke zwischen den PR-Terminen und der tatsächlichen Politik. So gab es umfängliche Verfahren zur BürgerInnenbeteiligung, die aber oft wenig Einfluss auf das Verwaltungshandeln hatten. So hab es einen Masterplan Verkehrsentwicklung, der im Inhaltsverzeichnis und in den strategischen Zielen den öffentlichen Nahverkehr und das Fahrrad in den Vordergrund schob – relativ versteckt bei den Maßnahmen aber eine Bestandsgarantie für die autogerechte Stadt enthielt. So gab es eine ausgeprägte soziale Rhetorik, zu der eine dem Anschein nach bewusst abschreckende Gestaltung der Obdachlosenunterkünfte in Widerspruch stand. Und so weiter. Den Grund dafür vermutete ich darin, dass jede echte Veränderung den Machterhalt gefährdet hätte. Doch mit den Jahren merken Menschen, wenn echte Probleme nur scheinbar angepackt werden. Und die Probleme bei der Verwaltungsführung ließen sich spätestens mit der „Rathausaffäre“ nicht mehr verbergen.
Den zweiten, wichtigeren Teil der Analyse verdanke ich eigentlich Inga und einer Kaffeepause. Inga arbeitet im Wahlkreisbüro des grünen Bundestagsabgeordneten und kommt ursprünglich aus dem Kulturmanagement. Wir unterhielten uns über das besondere Profil von Belit: den gewissen Coolness-Faktor, der anderen Politikerinnen und Politikern meist fehlt; den sogenannten Migrationshintergrund und was es für Hannover bedeuten könnte, jemanden mit einer solchen Geschichte zum Oberbürgermeister zu wählen. Ich schilderte ihr einen Eindruck: Hannover hat ein durchaus gespaltenes Selbstbild. Einerseits ist sie stolz auf die eigene Beschaulichkeit, die hohe Lebensqualität und das größte Schützenfest der Welt. Andererseits will die Landeshauptstadt nicht nur kulturell im Konzert der großen Städte mitspielen. Dieses Weltstädtische zu verkörpern, trauten wir in Hannover weder CDU noch SPD zu.
So schälte sich allmählich eine Strategie heraus: In Stil und Auftreten würde Belit für eine moderne, weltoffene und – ja – coole Großstadt Hannover stehen. Belit Onay packt an, worüber die SPD jahrelang nur redete. Wo Stefan Schostock zunehmend aus Angst und politischer Schwäche Entscheidungen gemieden hat, vermittelt Belit eine Stimmung des „Wir schaffen das“. Das Beste: Dafür musste er sich nicht einmal verbiegen.
Un irgendwann platzte der Knoten. Ich glaube mich zu erinnern, dass ein hörbares Aufatmen durch das Beratungsgremium ging, als ich bei unserem nächsten Treffen einen neuen Begriff in die Runde warf:
Wir wollten zusammen mit Hannover einen Aufbruch wagen.