Wagen wir den Aufbruch!
Spät am 10. November 2019 stand ich im Rathaus der Landeshauptstadt Hannover und fühlte mich vor allem: müde. Alle anderen standen in der Eingangshalle des Rathauses und jubelten unserem Kandidaten zu. Mit 52,9 Prozent der Stimmen war Belit Onay gerade zum ersten grünen Oberbürgermeister der Stadt gewählt worden. Dass in Hannover ein Grüner eine Mehrheit erringen könnte, war eigentlich unvorstellbar. Die Stadt gilt auch heute im Kern als sozialdemokratisch. Seit dem zweiten Weltkrieg wurde Hannover von der SPD regiert – die Partei wurde hier neu gegründet. Aus Hannover kamen der amtierende SPD-Ministerpräsident Stephan Weil und der letzte SPD-Kanzler Gerhard Schröder. Und nun der erste grüne Oberbürgermeister in Norddeutschland.
Ich hatte das große Glück, seit Juni 2019 den Wahlkampf von Belit Onay leiten zu dürfen – und das noch größere Glück mit einem grandiosen Team und einem unglaublichen Kandidaten am Ende vorn zu liegen. Dieser Text soll eine kleinen Serie beginnen, die von unseren fünf Monaten gemeinsamen Wahlkampfs erzählt. Ich hoffe, dass andere grüne Wahlkämpfende von unseren Erfahrungen profitieren können.
Was bisher geschah
Vielleicht muss man fragen, ob der Machtverlust der SPD in Hannover schon zu einer Zeit begann, als Stephan Weil noch Oberbürgermeister war. Viele der Probleme Hannovers können sich eigentlich nicht in den fünf Jahren entwickelt haben, die Stefan Schostock das Amt innehatte. Als Weil 2013 Ministerpräsident wurde und Hannover den früheren SPD-Fraktionsvorsitzenden Schostok zum neuen Oberbürgermeister wählte, hatte dieser von Anfang an Probleme, das Rathaus zu führen. Schostok verließ sich weitgehend auf seinen Büroleiter Frank Herbert – bis es 2018 zum Zerwürfnis zwischen Herbert und dem Personaldezernenten Harald Härke kam. In der folgenden Schlammschlacht um unrechtmäßige Lohnzulagen und Ämterpatronage, erhob die Staatsanwaltschaft Hannover Anklage wegen Untreue gegen Schostok und Härke, wegen Anstiftung gegen Herbert. Inzwischen wurde Schostok in erster Instanz von dem Vorwurf freigesprochen – ein Vorsatz war ihm am Ende nicht nachzuweisen.
Am 30. April 2019 beantragte Stefan Schostok gemäß § 84 des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes seine Versetzung in den Ruhestand, was einem Rücktritt gleichkommt. Hannover befand sich im Wahlkampf. Die SPD nominierte sehr schnell den früheren Kämmerer Marc Hansmann, einen für grüne Themen aufgeschlossenen Experten für Kommunalfinanzen. Damit überrumpelte sie uns und hatte zunächst die beste Ausgangsposition für den beginnenden Wahlkampf. Die CDU entschied sich nach einigem Suchen für den parteilosen früheren Vorstandsvorsitzenden von Volkswagen Nutzfahrzeuge, Eckard Scholz. Und nach einem parteitypisch komplexen Auswahlprozess wurde auf der Mitgliederversammlung am 10. Juni 2019 Belit Onay unser Kandidat – grüner Landtagsabgeordneter, studierter Jurist und Sohn einer türkischen Gastarbeiterfamilie.
Die Ausgangslage
Alle drei Kandidaten hatten offensichtliche Angriffspunkte: Marc Hansmann würde als früheres Mitglied des „Kabinetts Schostok“ Probleme haben, den Skandal hinter sich zu lassen – zumal der Filz-Vorwurf an der SPD klebte wie ein alter Kaugummi. Eckard Scholz war unvertraut mit dem politischen Terrain und hatte ein dem Augenschein nach zu technisches Politikverständnis – sein Wirtschaftshintergrund war ein zweischneidiges Schwert. Und Belit hatte bisher keine Erfahrung im Führen größerer Organisationen gesammelt – eine große Hypothek in einer Gesellschaft, die vor allem auf formale Qualifikationen achtet. Dafür hatte Belit den anderen Kandidaten entscheidende Dinge voraus: Charisma, politische Leidenschaft und eine Geschichte, die seiner Politik Glaubwürdigkeit verleiht.
Bei der Europawahl 2019 waren die GRÜNEN in Hannover mit zehn Punkten Vorsprung stärkste Kraft geworden. Demoskopisch konnten wir zum ersten Mal auf Augenhöhe mit SPD und CDU antreten. Unser Problem: Bei den finanziellen und personellen Ressourcen waren wir lange nicht auf Augenhöhe. Wir rechneten mit einer sechs- bis siebenfachen finanziellen Überlegenheit der „Volksparteien“ – und waren damit noch optimistisch, wie sich herausstellte. In der Parteigeschäftsstelle verfügte der Stadtverband über eine Vollzeit-Geschäftsführung (mich) und zwei Verwaltungskräfte mit wenigen Stunden.
Als ich Belit fragte, ob er sich vorstellen könne, dass ich seinen Wahlkampf leite – so lautete der Vorschlag des Vorstands – schaute er mich einen Augenblick überrascht an und bejahte dann. Für ihn, so mein Eindruck, war das überhaupt keine Frage.
Erste Schritte
Dieser Wahlkampf war in zweierlei Hinsicht besonders: Erstens war es eine Direktwahl für ein exekutives Amt, die es im politischen System der Bundesrepublik so nur auf kommunaler Ebene gibt. Mehr als bei anderen Wahlen trat deshalb die Partei mit ihrem Profil gegenüber der Person in den Hintergrund. Zweitens fand zeitgleich nirgendwo eine andere Wahl statt – weder in Niedersachsen noch im Bund. Es würde keine vorgefertigten Plakatlinien etc. geben, deren Botschaften zwangsläufig überall passen müssen und die entsprechend allgemein sind.
Wir hatten also die Möglichkeit, einen von Grund auf auf unseren Kandidaten und auf Hannover zugeschnittenen Wahlkampf zu führen. Dadurch gab es die Chance, uns von unseren Mitbewerbern abzuheben und anders wahrnehmbar zu sein. Der Nachteil: Wir mussten von Grund auf alles selber machen – und dazu brauchten wir zuerst einmal ein Team.