Wir haben es verkackt

EDIT: Ich hatte den Text zwischenzeitlich auf „privat“ gestellt, nachdem ich auf interne Aufarbeitungsprozesse hingewiesen wurde, die ich vorher noch nicht kannte. Nachdem jetzt teilweise Presse berichtet hat, habe ich ihn wieder online gestellt, damit Menschen nachlesen können, was ich wirklich gesagt habe.

Nach dem Wahlergebnis der GRÜNEN am Sonntag musste ich meinem Ärger mal Luft machen. Wenn die einen über Koalitionen spekulieren und andere wieder über die Kandidatin reden, finde ich: Wir müssen über diesen Wahlkampf sprechen.

Nach den Bundestagswahlen reden wir bei den GRÜNEN viel über Personen und Koalitionen. Wir sollten auch über Wahlkampf reden.

„Haben die GRÜNEN eine historische Chance verspielt?“ fragte der Moderator im SPIEGEL-Podcast „Stimmenfang“ von 23. September die eingeladene Expertin Melanie Amann. „Ich denk, ja. So einfach ist es“, antwortete diese sinngemäß.

Ich bin stinksauer. Mit 14,8 Prozent der Stimmen erzielten die GRÜNEN bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 zwar das beste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte, blieben aber deutlich hinter dem zurück, was möglich – und angesichts der historischen Herausforderungen v.a. des Klimawandels auch erforderlich – gewesen wäre. Denn im langfristigen Trend der Prognosen zwischen 2019 und 2021 bewegte die Partei sich im Korridor zwischen 20 und 25 Prozent. Teilweise als stärkste Kraft. Das war die Zielmarke. Wir müssen über den Wahlkampf reden – auch wenn sehr viele nun vor allem über Koalitionen reden wollen.

Nun weiß man es hinterher immer besser. Es ist sehr leicht, vom Spielfeldrand alles besser zu wissen. Aber vielleicht ist es diesem – um in der Fußballmetaphorik zu bleiben – Kreisklassentrainer ja erlaubt auszusprechen, was allen klar ist: Wir hatten es in der Hand und wir haben es – ganz nüchtern gesprochen – verkackt.

Die falsche Kandidatin?

Die naheliegende Erklärung, wir hätten schlicht die falsche Kandidatin nominiert, greift mir zu kurz – auch wenn eine junge Person ohne Exekutiverfahrung und mit Wahlerfolgen vor allem in der eigenen Partei eine sicherlich mutige Entscheidung war. Aber keine Mannschaft verliert nur wegen der Mittelstürmerin. In der Situation der Nominierung im April schien die Entscheidung jedenfalls nicht als Fehler und die sehr starke Leistung von Annalena Baerbock in den drei Triellen und anderen TV-Auftritten haben die Qualität der Kandidatin eindrucksvoll gezeigt.

Es ist heute unmöglich zu sagen, ob der Wahlkampf mit Robert Habeck als Kanzlerkandidaten grundlegend anders verlaufen wäre. Auch Robert macht Fehler, die ein politischer Gegner ausschlachten kann und bei denen man eine überzeugende Gegenstrategie hätte haben müssen (die wir nicht hatten). Und wenn man so weit in die hypothetischen Überlegungen geht, müsste man ja auch darüber nachdenken, ob man im grünen Selbstverständnis nicht konsequent auf diese Zuspitzung auf eine Person hätte verzichten müssen. Dann hätte man von der Dynamik und dem Zusammenspiel des Duos profitieren können – so überlegte nachdenkenswert der frühere CDU-Wahlkämpfer und Strategieberater Joachim Koschnicke im p&k Wahlcamp.

Was aber – glaube ich – gesagt werden muss: Für die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wäre ein deutlich besserer Wahlkampf möglich gewesen. Und auch einen Kandidaten Habeck hätten wir meiner Meinung nach mit hoher Wahrscheinlichkeit verschlissen. [EDIT] Es geht mir nicht um eine Kritik an Annalena Baerbock als Person oder als Wahlkämpferin. Es geht um die Kampagne. [/EDIT]

Unsere anfängliche Situationsbeschreibung war naiv

Der grundlegende Fehler dieses Wahlkampfs lag dem Augenschein nach schon in der anfänglichen Situationsanalyse. So beschrieb Ulrich Schulte in der taz vom 02. 09. 2021 am Rande in einem Satz, wie ich die Grundannahmen der grünen Kampagne wahrgenommen habe:

„Die Gesellschaft ist weiter, als die Große Koalition denkt, glaubt die Grünen-Spitze. Es brauche nur einen Stupser, dann beginne die ökosoziale Wende von selbst. Bereit, weil ihr es seid.“

Die gesellschaftliche Hegemonie als reife Frucht, die nur eines kleinen Stubsers bedarf, um in den geöffneten Mund grüner Parteistrategen zu fallen? Zumindest würde die Kampagne eine solche Wirklichkeitssicht nahelegen. Es ist ein ähnlicher Fehler in der Analyse, wie wir ihn in der Bundestagswahlkampagne 2013 (unvergessen die „Deutschland-Ist-Erneuerbar-Tour“) gemacht haben und wie er hinterher vom damaligen Spitzenkandidaten Jürgen Trittin klar analysiert wurde.

Die SPD wurde 2021 bereits am Boden gesehen – ihre Ablösung als Volkspartei der linken Mitte nicht als Ziel der Kampagne, sondern als deren Voraussetzung. Man setzte auf eine Zweikampfsituation mit der CDU, die wie von selbst dazu führen würde, die Stimmen des gemäßigt linken Lagers auf sich zu vereinen. Schließlich hatte man unter solchen Effekten selbst oft genug gelitten. Und hat es am Ende wieder.

Folge war dem Augenschein nach eine Kampagne, die ihre eigentliche kommunikative Aufgabe – die öffentliche Begründung des Machtanspruchs – dem Zeitgeist überlassen wollte. Bloß nicht polarisieren und damit Wähler*innen vergraulen. Wahlkampf im Instagram-Modus. Wesentlicher Teil davon war die mangelnde Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Weder hatten wir eine überzeugende Antwort auf die Angriffe gegen unsere Kanzlerkandidatin, noch eine eigene Angriffsstrategie. Anders ausgedrückt: Wenn man den expliziten Anspruch hat, die Union herauszufordern, sollte man nicht gleichzeitig Signale in die Richtung senden, am liebsten als Juniorpartner der Union in die Regierung einzusteigen.

Wir hatten keine überzeugende Wahlkampfstrategie

Der zweite größere Fehler gründete vielleicht in der umjubelten Kandidat*innenvorstellung im April 2021 – fünf Monate vor der Wahl. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste auch die Partei nicht, auf wen es hinauslaufen würde. (sic!) Der Zeitpunkt war zu spät, um die Kampagne organisatorisch und inhaltlich auf die Person an der Spitze zuzuschneiden. Um es klar zu sagen: Für die Kampagnenplanung ist eine solche Zeitplanung der reine Wahnsinn! (An dieser Stellen einen herzlichen Gruß an Martin Schulz und die SPD von vor vier Jahren.) Hinzu kam, dass augenscheinlich mit der Entscheidung nach außen die Führungsfrage nach innen nicht entschieden war. Stichwort: Teamlösung.

In der Folge hat die grüne Kampagne an keinem Punkt ein starkes Themen- und Kandidat*innenprofil jenseits des Klimathemas entwickelt. Die entscheidenden Fragen für eine Partei in der Herausforderer*innenposition haben wir nicht beantwortet: 1. Was läuft gerade falsch? 2. Wie muss es besser laufen? 3. Warum sind wir dafür die Richtigen? Und dabei ganz wichtig: Was hat das mit dir, liebe Wähler*in, zu tun? Nicht in den Printmaterialien, nicht in den Plakaten, nicht im Werbespot oder den Onlineanzeigen und leider auch nicht in Reden und Interviews.

Es mischten sich eine Annalena-Erzählung (Erneuerung), eine Robert-Erzählung (linker Patriotismus und Republikanismus) und das klassisch Grüne (für alles Gute und gegen das Böse). Eine solche Vielstimmigkeit, die parteiintern als etwas Gutes gesehen wird, bewirkt in der Außenkommunikation, dass keine der Botschaften durchdringt. Kaum erzählt wurde nach meiner Wahrnehmung übrigens der oben in der Analyse durchscheinende Narrativ vom Ergrünen der Gesellschaft – also dem Siegeszug grüner Themen in der viel zitierten gesellschaftlichen Mitte. Dies alles für spricht mangelnde Strategiefähigkeit. (Ebenso die mangelnde Fähigkeit, in der sich verschlechternden Situation vor der Wahl auf eine rot-grüne Koalitionsaussage zu setzen, um wenigstens das Abwandern taktischer Wähler*innen zur SPD zu verhindern.)

Zudem ist der Narrativ von Aufbruch und Erneuerung, der sich zunehmend als Kern der grünen Erzählung herausschälte, ein voraussetzungsreicher. Er setzt eine Unzufriedenheit der gesellschaftlichen Mehrheit mit dem Status Quo voraus. In einem Land, in dem die scheidende Bundeskanzlerin nach 16 Jahren Regierung Zustimmungswerte von 64 Prozent genießt, ist das eine durchaus… mutige Entscheidung. Und man muss sich fragen, ob diese Aufbruchserzählung zumindest handwerklich gut auserwählt (ausgewählt, auserwählt klingt in dem Kontext zu esoterisch) wurde. War der Wahlkampf einer, der von mutigen Ideen und kühnen Visionen lebte?

Wir haben stellenweise schlicht das Handwerk nicht beherrscht

Womit das Stichwort der handwerklichen Fehler gefallen wäre. Sie stellten nicht nur je für sich genommen ein Problem dar, sondern zusammengenommen den erklärten Anspruch der Kampagne (Wir sind bereit) fundamental in Frage.

Augenfällig sind die bekannten Stockfehler von Lebenslauf bis Buchprojekt, die vor allem davon künden, dass es der Annalena-Kampagne an Vorbereitungszeit mangelte und dass im entscheidenden Moment keine leistungsfähigen Strukturen aufgebaut waren, in die die Kandidatin Vertrauen gehabt hätte. Siehe oben zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung.

Auf der anderen Seite hat die Kampagne kaum daran gearbeitet, die Kandidatin als Führungspersönlichkeit zu profilieren. Wir haben erkennbar wenig dafür getan, Annalena als eine Person zu zeigen, die potenziell fähig sein kann, eine Regierung zu führen (Das Übliche: Bilder im Berater*innenkreis, Auslandsbesuche, betont staatstragende Wortbeiträge etc.) – und so die offensichtliche Schwäche der Kandidatin zu kompensieren. Hier fehlt es den GRÜNEN vielleicht an der Erfahrung mit Personenwahlkämpfen: Anstatt die Kandidatin zum Leuchten zu bringen und nach oben zu ziehen, hatte die Kampagne eher den Anspruch, die Kandidatin möge die Kampagne ziehen. Anstatt eine Kampagne von ihren objektiven Stärken und Schwächen her zu planen, wurde sie als Galionsfigur auf eine bestehende Kampagne gesetzt. So machen wir seit jeher Wahlkampf, wo wir sowieso keine Chance auf das Direktmandat oder das Bürgermeister*innenamt zu haben glauben.

Weniger geredet wird über eine schwache Plakatkampagne, die im Kern aus zehn sehr ähnlich aussehenden Themenplakaten mit Texten von hoher Allgemeinheit bestand. Eine politische Botschaft war der Plakatkampagne nicht zu entnehmen und der Kontrast zwischen weißer Schrift und hellem grün war so gering, dass die Plakate aus 50 Metern Entfernung nicht mehr zu lesen waren. Die anfänglich positiven Bewertungen der Plakatlinie haben mich schon damals sehr gewundert.

Zu reden wäre auch über das gedruckte Wahlkampfmaterial für den Einsatz an Ständen und im Haustürwahlkampf. Hier fehlte für mein Empfinden ein klares Konzept, welches Material für welchen konkreten Zweck im Wahlkampf konzipiert ist (mit Ausnahme des Haustürwahlkampfflyers). Ich meine: In welchem konkreten Szenario wird ein Material eingesetzt und welche Botschaft transportiert es? Und was waren eigentlich unsere drei inhaltlichen Kernforderungen, die jede*r am Ende benennen konnte?

Und da war ein erster Werbespot, der im positiven Sinne mutig war im Rückgriff auf nationales Liedgut und dem klaren Willen, Milieugrenzen zu sprengen. Ich mochte diesen Spot. Das Video wirkte aber nicht wie ein Teil der Gesamtkampagne, sondern stand für sich. Ein Entschlüsseln des anspielungsreichen Spots war weder von den Plakaten her möglich noch von den Reden der Kanzlerkandidatin her – sondern vielleicht am ehesten aus den Büchern von Robert Habeck und der Sozialtheorie von Armin Nassehi. Auch hatte der Inhalt des Spots nichts mit dem Wahlkampfclaim zu tun und stand mit diesem in keiner erkennbaren Beziehung. Zu dem Claim „Bereit, weil ihr es seid“ hätte man eine Geschichte von der Staatsparteiwerdung der Grünen und der Grünwerdung der Gesellschaft erzählen können. Auch diese Inkongruenz ist ein echter handwerklicher Fehler.

Was tun?

Wir sollten nicht auf den Gedanken kommen, auf Grund dieses Ergebnisses die Prozesse der thematischen Verbreiterung und der gesellschaftlichen Öffnung zurück abzuwickeln. Wenn nach der Flutkatastrophe in NRW das Klimathema nur für ein Ergebnis von knapp 15 Prozent gereicht hat, ist das der Korridor. Wer Mehrheiten für eine sozial-ökologische Politik gewinnen will, muss breiter ansetzen.

Aber die Kampagnenplanung für die nächste Bundestagswahl muss meiner Meinung nach deutlich früher und mit einer diesmal realistischen Bestandsaufnahme beginnen. Und wir müssen die Fähigkeit entwickeln, bundesweite Kampagnen von Personen her zu entwickeln und konsistent zu führen. Strategisch und strukturell. Dann kann es in vier Jahren anders ausgehen.

Und in der Zwischenzeit: Eine stabile Regierung bilden, gut regieren, das Klima (ein bisschen) retten. Nichts einfacher als das.

Ein Gedanke zu „Wir haben es verkackt“

  1. Ja, Mathis, ich stimme dir in allen Punkten deiner Analyse zu und möchte auf drei Punkte noch näher eingehen.
    1. Die Plakate fand ich entsetzlich; mir gefällt der stumpfe Grünton nicht, er wirkt wie Farbe aus der DDR; die Inhalte der Plakate waren meist nichtssagend, die ewige Wiederholung von Bienen oder anderen Tierchen zieht keine Wähler an, der Slogan „Wir sind bereit/Ihr seid bereit …“ erinnert an schlechte Produktwerbung und spricht allenfalls Leute an, die dank eigener Erkenntnisse schon „bereit“ sind, gewinnt aber die vielen übrigen nicht.
    2. Das Programm. Fast niemand liest sich weit über 100 Seiten Programm durch, außer Journalisten, die das beruflich tun, und einige dumme wie mich, die sich das angetan haben. Damit aber überließ die Parteiführung die Interpretation des Programms oft nicht wohlmeinenden Jouralisten, und heraus kam die Gegenwerbung mit der „Verbotspartei“. Es fehlte einfach eine gut lesbare, KURZE Version, die man Wählern in die Hand drücken konnte, die ihnen (ich betone das jetzt) die Angst nehmen konnte vor hohen Geldausgaben – wer kann denn schnell mal mehrere zehntausend Euro für Haussanierung, E-Auto, Lastenfahrrad usw. für das Klima ausgeben? Wer kann denn schnell mal den Arbeitsplatz wechseln, um das Pendeln zu vermeiden (das schaffen allenfalls Unverheiratete, ohne Kinder). Als Beispiel: mein Sohn und seine Familie wohnen hier in Duderstadt, und in den letzten 20 Jahren hatte er vier Dienstorte, Rudolstadt, Erfurt, Leinefeld, Nordhausen; er muss also pendeln, der Arbeit nachziehen hätte Familie und die Kinder ruiniert. So ist vieles als Bedrohung empfunden worden (ich habe mich ja auch umgehört), und die Interpretation der geplanten grünen Maßnahmen ist bereitwillig/fahrlässig den politischen Gegnern überlassen worden. Das Verrechnen der Umweltabgaben, Rückerstattungen usw. hat kaum jemand verstanden, da bin ich sicher; aber verstanden haben zu viele Wähler, dass es es doch recht teuer werden würde.
    3. Hinzu kam die Vermischung zu vieler Themen – Weltklima, abschreckende Verteuerung des Autofahrens usw. bis hin zu Rechten der LBGQ… usw. – eine Suppe mit zu vielen Zutaten schmeckt nicht.
    Das mal schnell hingeschrieben, mit Grüßen aus Duderstadt, Klaus Schmidt

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